Im Böhmerwaldbund aktiv: der stellvertretende Vorsitzende Simon Reitinger, Franziska Unger, Karl Rehberger, Anna-Lena Unger und der Vorsitzende Ulrich Spitzenberger (von links). Foto: Roberto /Bulgrin
Esslinger sein – und Böhmerwälder: Das geht, meinen Mitglieder des Böhmerwaldbundes der Neckarstadt. Einst wurde der Bund von Vertriebenen gegründet – von denen leben aber nicht mehr viele. Es gibt junge Menschen, denen das Brauchtum ihrer Vorfahren am Herzen liegt – aber ohne Heimattümelei.
Simone Weiß
22.04.2025 - 14:00 Uhr
Hütten voller Wanzen, 28 Menschen zeitweise zusammengepfercht in einem Raum, Regenwürmer in der Suppe – das Leben war hart im Lager auf dem Esslinger Zollberg. Karl Rehberger hat dort von 1946 bis 1956 gelebt. Als Fünfjähriger musste er zusammen mit seiner Familie seinen Geburtsort im Böhmerwald in der heutigen Tschechischen Republik verlassen, nach Westdeutschland fliehen und danach zunächst in Barraken auf dem Zollberg leben. Andere Heimatvertriebene hatten ähnliche Erlebnisse. Sie gründeten 1950 den Böhmerwaldbund Esslingen, der in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag feiert.
Manche Erinnerungen bleiben. Wie die an das Lager auf dem Zollberg und die Regenwürmer in der Suppe. Gegessen habe er beides, sagt Karl Rehberger. Zu groß war der Hunger. Er und die anderen Bewohner hätten sich an das Lagerleben angepasst. Dabei seien viele Anderes gewohnt gewesen. Im Böhmerwald hätten die meisten ein gutes Auskommen gehabt. Er erinnert sich etwa an einen ehemaligen Fabrikbesitzer, der nach der Flucht als Kanalarbeiter in Esslingen tätig war.
Mit moderner Nostalgie: Für das Böhmerwälder Brauchtum setzt sich der Böhmerwaldbund Esslingen ein. Foto: Böhmerwaldbund Esslingen
Die Politik hat seine und andere Biografien brutal umgeschrieben. Auch durch die Weltpolitik wurde das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen im Böhmerwald belastet. Unvorstellbare Grausamkeiten gab es auf beiden Seiten, sagt Karl Rehberger. Nach ihrem Einmarsch in den Böhmerwald seien die Nationalsozialisten erbarmungslos gegen die tschechische Bevölkerung vorgegangen. So hätten die braunen Horden in Prag entsetzten Müttern die Kinderwagen mit den Babys entrissen und sie in die Moldau geworfen.
Sein Schaukelpferd durfte Karl Rehberger mitnehmen
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Niederlage gingen die Tschechen gegen die deutsch stämmige Bevölkerung vor. Auch hier kam es zu Gewaltakten. Die Deutschen, erinnert sich Karl Rehberger, wurden auch diskriminiert und mussten – in Anlehnung an den Judenstern unter dem NS-Regime – eine weiße Binde am Arm mit einem schwarzen „N“ darauf tragen: „Němec“ ist das tschechische Wort für „Deutscher“. Schließlich, sagt Karl Rehberger, wurden sie gezwungen, die angestammte Heimat zu verlassen. 40 Kilo Gepäck durfte jede Person mit sich tragen, und er rechnet es seinen Eltern heute noch hoch an, dass er sein geliebtes Schaukelpferd mitschleppen durfte. Er hat es nicht mehr. Irgendwann, sagt er, ging es kaputt.
Nicht verloren gehen aber sollen das Gedenken an die alte Heimat, das Brauchtum, die gemeinsamen Erfahrungen. Das, sagt der 1941 Geborene, war ein Grund für die Gründung des Böhmerwaldbundes Esslingen. Zu seinen heute etwa 150 Mitgliedern gehören nicht nur Heimatvertriebene. Franziska und Anna-Lena Unger sind 24 und 25 Jahre jung und engagierte Mitglieder. Beide Großeltern, sagen die Schwestern, stammen aus dem Böhmerwald. Sie wuchsen mit Erzählungen und Erinnerungen daran auf, waren in der Kindergruppe des Bundes aktiv und schätzen auch als Erwachsene die Gemeinschaft und die Aktivitäten. Die Tracht tragen sie voller Stolz.
Dieser Stolz und die Verbundenheit zur alten Heimat werden im Böhmerwaldbund gepflegt, sagt der erste Vorsitzende Ulrich Spitzenberger. Aber keine Heimattümelei oder Hurra-Patriotismus. Der Böhmerwald, das sei Konsens, gehöre nun zum Staatsgebiet der Tschechischen Republik. Änderungen der bestehenden Grenzen, Gebietsforderungen oder der Wunsch nach der Rückgabe ehemals deutsch besiedelter Gebiete in Osteuropa gehörten nicht zum Selbstverständnis: „Wir setzen uns für die weltweite Ächtung von Flucht und Vertreibung ein und wenden uns gegen jede Art rechtsradikaler Strömungen.“
„Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ aus dem Böhmerwald
Die Staatsgrenzen sollen bleiben. Die Erinnerungen auch. Er fühle sich als Schwabe und Böhmerwälder, sagt Ulrich Spitzenberger. Das geht. Die Gründungsväter und –mütter des Böhmerwaldbundes hätten zumeist der Erlebnisgeneration angehört, die noch in der früheren Heimat gelebt hätte. Ihre Nachkommen und Freunde seien Mitglieder der Bekenntnisgeneration, die sich zum Böhmerwald bekennen würden, ohne selbst dort gelebt zu haben.
Das geht. In Esslingen leben, aber die Heimat der Vorfahren nicht vergessen, sei kein Problem. Bis 2019 hatte der Böhmerwaldbund im Wolfstor eine Heimatstube eingerichtet und sich dort getroffen. In seinen Anfangszeiten hatte der Bund mehr als 300 Mitglieder, aktuell hat sich die Anzahl trotz vielfacher Vereinstätigkeiten halbiert. Es sei finanziell immer schwieriger geworden, die Miete für den Raum im Wolfstor aufzubringen, sagt der zweite Vorsitzende Simon Reitinger. Und die steilen, gut 80 Stufen hinauf seien von den oft älteren Mitglieder immer schwerer zu schaffen gewesen. Darum zog der Bund in Räumlichkeiten in der Kurt-Schumacher-Straße um. Hier pflegt er eine moderne Nostalgie mit dem Blick zurück, aber auch noch vorne.
Die Anfänge und der Geburtstag
Gründung Die Heimatgruppe Esslingen des Deutschen Böhmerwaldbundes wurde im April 1950 in der Gaststätte „Fürstenfelder Hof“ in Esslingen gegründet. Die Gruppe sei „ als Solidar- und Schicksalsgemeinschaft“ entstanden, sagt der erste Vorsitzende Ulrich Spitzenberger. Aktuell setze sie sich aus Menschen aus dem Böhmerwald, deren Nachkommen und Freunden zusammen. Das Brauchtum aus dem Böhmerwald werde auch mit Lied, Tanz und Tracht gepflegt.
Geburtstagsfeier Seinen 75. Geburtstag feiert der Böhmerwaldbund Esslingen am Sonntag, 18. Mai. Um 9.30 Uhr gibt es einen katholischen Festgottesdienst im Münster St. Paul und um 11.15 Uhr einen Festakt im Salemer Pfleghof. Anschließend steht ein gemütliches Beisammensein mit Mittagessen, Kaffee und Kuchen an.