Vor 75 Jahren sind in einem Landgasthaus die ersten Schritte für eine Rückkehr des württembergischen Parlamentarismus gegangen worden. Doch was hat das mit heute zu tun?
Murrhardt - Die letzten Kriegstage liegen erst wenige Wochen zurück, als ein schlanker älterer Herr mit Oberlippenbärtchen das Gasthaus Sonne-Post in Murrhardt (Rems-Murr-Kreis) betritt. Es ist kein Geringerer als der von der amerikanischen Militärverwaltung eingesetzte Backnanger Landrat Albert Rienhardt. Er suche nach einem Versammlungssaal, erklärt er. Der Wirt zeigt ihm sein Nebenzimmer, in dem sich unzählige Akten stapeln. Repräsentativ ist das nicht, doch Rienhardt akzeptiert – und dem Wirt rutscht das Herz in die Hose.
Versammlungen, zumal politische, sind den Deutschen zu diesem Zeitpunkt streng verboten. „Wir haben ganz schön gezittert, als die 25 Herren tatsächlich zu uns kamen“, erinnerte sich 1995, zum 50-jährigen Jubiläum, der Wirtsleute-Sohn Wilhelm Bofinger. Dann sei auch noch ein Jeep mit schwerbewaffneten amerikanischen GIs vorgefahren. „Ich dachte, jetzt werden wir alle festgenommen.“
Am 20. Juni jährt sich das Treffen, das als Murrhardter Landrätekonferenz in die Geschichte eingegangen ist, zum 75. Mal. Es gilt als Wiedergeburt des Parlamentarismus in Württemberg. Als erstes Sprießen einer demokratischen Staatsführung in dem zerstörten Land bezeichnete es der damalige Gebietskommandant Oberst William W. Dawson. Seine Soldaten hatte er keineswegs geschickt, um die Versammlung aufzulösen. Vielmehr ging es um den Schutz eines Teilnehmers. Der Heilbronner Landrat Emil Beutinger – bis 1933 Oberbürgermeister von Heilbronn – war bei den Nazis derart verhasst gewesen, dass die Amerikaner fürchteten, er könnte Opfer einer Werwolf-Aktion werden.
Die Landräte sind allzuständig
Das besiegte Deutschland hatte jede staatliche Souveränität eingebüßt. Nur die kommunalen Gebietskörperschaften garantierten noch eine gewisse staatliche Ordnung. Den Landräten kam dabei eine Schlüsselrolle zu. In ihren jeweiligen Kreisen besaßen sie eine Allzuständigkeit. Gebunden waren sie nur an die Weisungen der örtlichen US-Militärverwaltung. Nun gab es für die Einzelkämpfer erstmals die Chance zum Austausch. Fünf Stunden lang redeten sich die Herren die Köpfe heiß, debattierten über die schwierige Versorgungslage, über die Unterbringung von Flüchtlingen und die Probleme der Energieversorgung. Gekommen waren 13 Landräte und ihre Mitarbeiter aus Nordwürttemberg. Vertreter aus Stuttgart, Nürtingen, Böblingen und Esslingen waren nicht zugegen. Die Franzosen, die auch den Süden Württembergs kontrollierten, waren noch nicht abgerückt. Auch die Landräte aus Ulm und Heidenheim mussten passen. Sie wurden Opfer der chaotischen Verkehrsverhältnisse. Das historische Gasthaus ist längst einem Neubau gewichen. An Landrat Rienhardt, den Initiator, will auch niemand mehr so recht erinnern. Nicht einmal zwei Wochen nach der Versammlung wurde er entlassen. Die Amerikaner hatten Kenntnis über seine NSDAP-Mitgliedschaft und seine stets opportunistische Haltung gegenüber dem Regime erhalten.
Der Initiator war ein Opportunist
Doch der Geist von Murrhardt wirke nach, glaubt der heutige Bürgermeister der Stadt, Armin Mößner. Damals wie heute habe sich die kommunale Ebene als pragmatischer Problemlöser bewährt, sagt der Hauptgeschäftsführer des baden-württembergischen Landkreistages, Alexis von Komorowski. In der Corona-Krise habe es sich gezeigt, wie entscheidend es ist, dass regional und vor Ort konsequent und flexibel auf ganz konkrete Lagen reagiert werde. „Die zu Beginn der Krise vielfach hörbaren kritischen Stimmen, unser mehrgliedriger Staatsaufbau sei nicht krisenfest, sind inzwischen weitestgehend verstummt“, sagt Komorowski. Die Kommunen hätten größte Bedeutung für ein funktionierendes Staatswesen, das sei „das bleibende Vermächtnis der Landrätetagung“, sagte er.
Landrat Sigel sagte, es sei sicherlich kein Zufall gewesen, dass „die Initiative zu diesem wichtigen Treffen“ aus dem heutigen Rems-Murr-Kreis kam. Denn „wir blicken auf eine lange freiheitliche und demokratische Bewegung zurück“. In der Sonne-Post fanden im 19. Jahrhundert regelmäßig Sitzungen der demokratischen Bewegung statt, an denen auch der Murrhardter Schlossermeister Ferdinand Nägele beteiligt war, der 1848 in das erste deutsche Parlament einzog.
Der Präsident des Landkreistags, Joachim Walter, schreibt im Vorwort eines jetzt herausgegebenen Heftchens zur Landrätekonferenz, dass diese niemals „ohne das Zutun weit- und umsichtiger US-amerikanischer Offiziere“ hätte stattfinden können. Die heutige deutsche Demokratie müsse immer „auch als Geschenk der Alliierten“ verstanden werden.