Es gibt wohl kaum jemanden, der die gedruckte Ausgabe der Stuttgarter Zeitung so akribisch liest wie Gerhard Kühn. Aus Interesse selbstverständlich. Aber auch, um mit den Wörtern Bilder zu erstellen: Über Terror, das Dieseldilemma, oder Stuttgart 21.

Titelverantwortliche Redakteurin Stuttgarter Nachrichten: Veronika Kanzler (kan)

Stuttgart - Die Schlagzeile von gestern ist ein alter Hut. Aus der Sicht von Journalisten stimmt das. Doch diese Sichtweise interessiert Künstler nur bedingt. So sieht das auch Gerhard Kühn, der mit weit mehr als hunderttausend Überschriften-Schnipsel arbeitet. „Eine Unmenge“, sagt der Künstler und lächelt.

 

Täglich macht sich der gebürtige Lette auf den zwanzigminütigen Fußweg zu seinem Atelier. Wer ihn dort besucht, gelangt über eine schmale Steintreppe in das Souterrain, wo sich Kühns Werkraum befindet und die mehr als tausend Bilder lagern. Der Raum mit der abgehängten Holzdecke ist von überschaubarer Größe. Um hier den Überblick zu behalten, braucht es Ordnung. Und Gerhard Kühn, das wird schnell klar, ist sehr ordentlich.

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Später, zum Mittagessen, wartet seine Frau zu Hause auf ihn. Sie ist eine gebürtige Stuttgarterin und der Grund, warum Kühn in die Landeshauptstadt gezogen ist. „Mittlerweile gönne ich mir einen Mittagsschlaf“, erzählt der 85-Jährige verschmitzt. Danach liest er die aktuelle Stuttgarter Zeitung, und bis zum nächsten Morgen entscheidet er, welche der vielen Überschriften er für seine Collagen verwenden möchte.

Unzählige Schnipsel, penibel sortiert

„Letter Arts“ nennt Kühn seine Stilrichtung, aus dem Englischen für Buchstaben-Kunst. Als er vor 22 Jahren in den Ruhestand ging, wollte er fortan sein eigenes Ding machen. Der ehemalige Werbegestalter verdiente sein Geld damit, dass er für namhafte Unternehmen in der Republik beispielsweise Schaufenster designte. Sein Ding, das sind sind lesbare und buchstäbliche Bilder.

Akkurat sind die ganzen Collagen in seinem Atelier verstaut, die meisten in einem Regal, andere lehnen an den Wänden. Seine Werke haben drei Erkennungsmerkmale: Erstens finden sich auf allen Collagen Buchstaben, Zahlen oder Worte. Zweitens blitzt auf jedem Bild ein kleines blattgoldenes Quadrat auf. Und drittens sind all seine Bilder mittlerweile quadratisch. Die Werkbank, an der Kühn seine Bilder fertigt, steht mitten im Raum. Auf der rechten Seite ist sein Abstelltisch. Dutzende Schächtelchen stehen dort, exakt ausgeschnittene Buchstaben der Stuttgarter Zeitung liegen darin. Außerdem unzählige Pinsel, Fläschchen mit Bindemittel, Farben und Kartons, in denen Briefumschläge lagern. Darin befinden sich die eigentlichen Schätze des Künstlers: Wortschnipsel, penibel ausgeschnitten aus der Stuttgarter Zeitung. Sortiert nach Thema oder im Zeitablauf. Schlagworte aus den vergangenen Jahren, die einen kompakt an das erinnern, was nicht nur das Weltgeschehen oder republikweit das Interesse weckte, sondern auch lokal hier in Stuttgart die Menschen bewegte. Schlicht: was es wert war, gedruckt zu werden.

Die Energiewende im Wohnzimmer?

„Stuttgart-21-Gegner bereiten Blockade vor“, „Traumstart für Kretschmann“, „Merkel und Sarkozy nähern sich an“. Auf den ersten Blick erscheint der Zusammenhang wahllos. Aus welchem Jahr stammen die Wörter? Je länger der Blick auf die einzelne Collage fällt, desto klarer wird das Bild. Die Überschriftenfragmente zeigen das redaktionelle Jahr 2011. Für jeden Betrachter mag es ein anderes Wort sein, das er damit in Verbindung bringt und den Aha-Moment auslöst.

Bei jenen Collagen, die thematisch geordnet sind, ist es offensichtlicher: „Plexiglas, Mindestabstand, Masseninfektion.“ Natürlich hat sich Gerhard Kühn auch mit der weltweiten Pandemie und dem Coronavirus künstlerisch auseinandergesetzt. Überhaupt, alle großen, meist politischen Themenblöcke hat der Künstler zu Bildern verarbeitet. Vom Euro-Rettungsschirm, dem Geld im Allgemeinen, über die Energiewende, Stuttgart 21 oder dem Dieseldilemma. Dabei gesteht Kühn offen: „Es ist nicht so einfach, die Bilder dann zu verkaufen – ich verstehe das, wer will schon die Energiewende in seinem Wohnzimmer hängen haben?“. Immer wieder finden sich jedoch Unternehmen oder Institutionen, die seine Kunstwerke bei sich ausstellen.

Geboren in Lettland, aufgewachsen in Polen

Mitunter dauert es Jahre, bis ein Bild entsteht. Manche sind bis heute nicht fertig. Die Kanzlerin-Collage beispielsweise. „Die wird so lange erweitert, bis sie abtritt“, erzählt der Künstler. Wie viel Zeit Gerhard Kühn in seine Kunstwerke steckt, kann er nicht genau sagen. Gleichwohl macht es einen großen Teil seines Rentnerlebens aus.

Derzeit überlegt sich Kühn, nebenbei noch ein Buch zu schreiben. Als Inspiration diene seine Mutter, die das gesamte Leben der Familie zu Papier brachte. Und das hat es in sich: Von Lettland aus wurde seine Familie während der NS-Zeit „Heim ins Reich“ getrieben, sie wurden kurzerhand als vormals ausgewanderte Deutsche nach Polen umgesiedelt. Sie wurden Opfer der Nazi-Fantastereien von einem großdeutschen Reich. Seine Kindheit verbrachte Kühn auf einem Bauernhof im besetzten Posen. Nach dem Krieg lebten die Familie in der damaligen DDR, von wo aus er im Alter von 20 Jahren flüchtete. In Darmstadt studierte er Gebrauchsgrafik und verbrachte einige Jahre in Villingen-Schwenningen.

Ohne Zeitung geht’s nicht

Seit mittlerweile vierzig Jahren lebt das Ehepaar Kühn nun in Botnang. Und seit dieser Zeit ist Kühn Abonnent der Stuttgarter Zeitung. Auf die Frage, was Zeitung für ihn bedeute, sagt er: „Ich komme aus einer Generation, in der Zeitung das wichtigste Medium war, um Informationen zu bekommen. Und ich glaube, dass das auch noch für künftige Generationen stimmen wird.“ Lokale Ereignisse und weltweit relevante Themen ohne Zeitung? Nein, das gehe nicht. Wohl auch, weil Kühn weiß, dass der nächste Tag weitere Schlagzeilen für seine Kunst liefert.