Sein wissenschaftliches Werk ist überschaubar, doch als populärwissenschaftlicher Autor hat sich der Neuropsychologe Oliver Sacks einen Namen gemacht. In Fallgeschichten beschreibt er, wie zerbrechlich Wahrnehmung und Persönlichkeit sind.
Stuttgart - Der menschlichen Psyche, man mag sie auch Seele nennen, ihren Irrwegen und Absonderlichkeiten kann man sich von zwei Seiten nähern, von der literarischen (wie etwa Arthur Schnitzler) oder von der medizinischen. Es gibt jedoch nur wenige Neurologen, die zugleich die literarische Perspektive eingenommen haben. Sigmund Freud, der nicht zuletzt ein großer Stilist und Geschichtenerzähler war, gehört dazu, wohl auch C. G. Jung – und natürlich Oliver Sacks. Der britisch-amerikanische Neuropsychologe ist weit über sein Fachgebiet hinaus einer breiten Leserschaft bekannt. Schon der Titel seines erfolgreichsten Buches, „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, gilt vielen als verdichtete Beschreibung, wie zerbrechlich die menschliche Selbstwahrnehmung ist.
Sacks erzählt lieber als zu erklären. Seine Fallbeschreibungen sind Kurzgeschichten, die davon berichten, wie leicht unsere scheinbar so gesunde Persönlichkeit, unser Ich, aus den Fugen geraten kann. Was den Leser dabei am meisten erschaudern lässt: Viele seiner Patienten halten sich für völlig normal. So schreibt Sacks über einen Mann, der unter dem Korsakow-Syndrom, einer Form des Gedächtnisverlustes, leidet: „Und dies alles geschieht bei ihm ohne das Gefühl, dass er sein Gefühl verloren hat, ohne das Gefühl, dass er die Tiefe verloren hat, jene unergründliche, geheimnisvolle und in unzählige Ebenen unterteilte Tiefe, durch die Wirklichkeit und Identität irgendwie definiert werden.“ Solch funkelnde Prosa, die Beobachtung mit philosophischen Überlegungen verbindet, macht deutlich, warum der Neuropsychologe so viele Leser begeistern kann.
Sein Gespür für literarische Dramaturgie hat ihn nie verlassen
Geboren im Norden Londons als Sohn einer jüdischen Arztfamilie (die Mutter war eine der ersten Chirurginnen im Vereinigten Königreich), wanderte Sacks nach dem Medizinstudium in Oxford in die USA aus, ließ sich 1965 in New York nieder und nahm eine Stelle in einer neurologischen Klinik an. Angeregt von seinen dortigen Begegnungen mit Kopfschmerz-Patienten und inspiriert von einem Text, den der britische Arzt und Migräne-Forscher Edward Liveing fast ein Jahrhundert zuvor verfasst hatte, schrieb er innerhalb von neun Tagen „Migräne“, sein erstes Buch, nieder. Es erschien 1970. Von Anfang an richtete sich Sacks an ein Laienpublikum.
Sein wissenschaftliches Werk ist bis heute so überschaubar wie zweitrangig geblieben. Der Erfolg auf dem Buchmarkt hingegen ist dauerhaft: Sein zweites Buch, „Zeit des Erwachsens“, wurde sogar 1990 mit Robert De Niro und Robin Williams verfilmt. Es handelt von wie zu Statuen erstarrten Patienten, die unter der Europäischen Schlafkrankheit litten. Eine Behandlung mit dem Medikament L-Dopa konnte die Betroffenen zu neuen Leben erwecken.
Schon die Wahl des Stoffes zeugt von Sacks’ Gefühl für literarische Dramaturgie, das ihn bis heute nicht verlassen hat. Sein jüngstes Buch, das im vergangenen Jahr erschienen ist, beschäftigt sich mit Halluzinationen – auch mit jenen, die der Autor selbst bei seinen Experimenten mit Drogen in jungen Jahren gemacht hat. Ein solcher Rückgriff auf eigene Erfahrungen mag den Neuropsychologen immerhin vor dem gelegentlichen Vorwurf bewahren, er beute das Schicksal seiner Patienten für seine literarische Karriere aus. Seinem Erfolg bei den Lesern hat diese Kritik ohnehin wenig geschadet. Auf ihre Treue kann sich Oliver Sacks, der 9. Juli 80 Jahre alt wird, weiterhin verlassen.