Geoff Rodoreda zeigt sein Buch über George Orwell Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Als George Orwell am 22. April 1945 mit den US-Truppen in Stuttgart einmarschierte, war er noch nicht der berühmte Autor, sondern Kriegsreporter. Sein Aufenthalt geriet in Vergessenheit. Bis Geoff Rodoreda die Spuren von Orwell suchte und fand.
Er ist unscheinbar. Verloren zwischen Neckar und B 10. Mittlerweile. Doch 1945 war der Berger Steg der einzige Zugang nach Stuttgart. Die anderen Brücken hatten die Nazis gesprengt. Hier sammelt sich die Vorhut der 100. US-Division, um in die zerstörte Stadt einzumarschieren und sie den Franzosen wieder abzunehmen. Mit dabei George Orwell.
Nach dem Einmarsch gaben die Franzosen Befehle zum Arbeitseinsatz (hier Reinigung der Königstraße) an die Bevölkerung aus. /Foto: Stadtarchiv Stuttgart
„Ein paar Stunden nach der Einnahme Stuttgarts durch die französische Armee rückten ein belgischer Journalist und ich in die Stadt ein, in der alles drunter und drüber ging. Alle großen Brücken in der Stadt waren in die Luft gejagt worden, wir mussten über eine schmale Fußgängerbrücke gehen, die die Deutschen offensichtlich heftig verteidigt hatten. Ein gefallener deutscher Soldat lag ausgestreckt auf dem Rücken am Fuß der Brückenstufen. Sein Gesicht hatte eine wachsgelbe Farbe. Auf seiner Brust hatte jemand einen Strauß blauen Flieder gelegt, der hier überall blühte.“
George Orwell Foto: http://www.imago-images.de//Pictures From History via www.im
So beschrieb Orwell den Morgen des 22. April, als er mit den Kommandeuren der 100. US-Division über den Neckar geht. Sie treffen „in den östlichen Vorstädten der Stadt“ die Befehlshaber der Franzosen, die tags zuvor die Stadt besetzt hatten.
80 Jahre später, Universität Stuttgart, Keplerstraße. Wir treffen Dozent und Lektor Geoff Rodoreda in seinem Büro. Und reden über sein neues Buch „George Orwell in Stuttgart, Nürnberg, Köln“. Der Australier ist Lektor und Dozent am Institut für Literaturwissenschaft. Seit 15 Jahren ist er auf den Spuren von George Orwell. Der Autor von „1984“ und „Farm der Tiere“ zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Bücher sind wieder erschreckend aktuell. In Putins Russland lebt der Stalinismus von „Farm der Tiere“ auf. Und in den USA geriert sich Donald Trump als Großer Bruder inklusive Wahrheitsministerium; dass wir die Überwachungssysteme alle freiwillig mit uns herumtragen, das war Orwell allerdings nicht in den Sinn gekommen.
George Orwell kämpfte in Spanien
Natürlich ist es kein Zufall, dass das Buch 2025 herausgekommen ist, 80 Jahre nach Kriegsende. Solche Gedenktage mehren das Interesse und sorgen für Umsatz. Doch tatsächlich forscht Rodoreda schon lange zu Orwell. Für ein Seminar über die Essays des Schriftstellers hatte er sich durch vier Bände gewühlt, eine Auswahl von Orwells Essays und Briefen. „Dabei bin ich auf ,Rache ist sauer’ gestoßen, geschrieben im November 1945 für den ,Observer’“, sagt Rodoreda, „plötzlich lese ich Stuttgart!“ Obwohl die sechs Seiten für eine Diogenes-Ausgabe von 2003 übersetzt wurden, hatte bisher niemand in Stuttgart davon Notiz genommen.
„Der Belgier wandte sein Gesicht ab, als wir vorbeigingen. ( . . .) Er gestand mir, dass dies der erste Tote war, den er in seinem Leben gesehen hatte. Noch etliche Tage danach war seine Haltung völlig anders als zuvor. Mit Abscheu betrachtete er die zerbombte Stadt und die Demütigungen, denen die Deutschen ausgesetzt waren. Als er abreiste, gab er den Deutschen, bei denen wir einquartiert waren, den Rest des Kaffees, den wir mitgebracht hatten.“
Orwell habe schon früh für die Versöhnung plädiert, sagt Rodoreda. „Er war in seinen politischen Essays sehr mutig, er hatte erkannt: Rache ist nicht süß, sondern sauer, er plädierte dafür, die Fehler des Ersten Weltkriegs nicht zu wiederholen.“ Keine populäre Meinung damals in England. Eine, die sich Orwell bei seiner Arbeit als Kriegsreporter gebildet hatte. Am 15. Februar 1945 flog er obschon schwer lungenkrank nach Paris, begleitete die Truppen nach Köln und Nürnberg, ehe er am 22. April mit den Amerikanern nach Stuttgart kam.
Rodoreda wollte mehr wissen. In der Landesbibliothek wurde er fündig. Dort stieß er auf die „Davison Collection“, neun Bände mit den Romanen von Orwell und elf Briefe mit Essays, Artikeln und Briefen. In Band 17 fand sich ein Artikel vom 28. April 1945 für die Wochenzeitung „Observer“, geschrieben in Stuttgart. „Es war unmöglich für Fahrzeuge, den Fluss zu überqueren, jede Brücke war gesprengt worden. Da war noch eine schmale Fußgängerbrücke, welche den Deutschen keine Sprengladung wert gewesen war. ( . . .) Die Innenstadt, oder was davon übrig war, war gründlich geplündert worden. (. . .) Das Chaos nach dem Fall von Stuttgart war vermutlich schlimmer als anderswo durch das Plündern der Weinkeller. Leere Flaschen, auch halb volle Flaschen, lagen überall herum. Ich traf in der Stadt unter dem Lärm von Gewehrschüssen ein, als ich sie zwei Tage später verließ, waren immer noch verirrte Schüsse zu hören.“
So sah George Orwell das zerstörte St Foto: dpa/akg-images
Inspiration für sein Werk
Rodoreda grub sich tief ins Werk hinein. Wollte wissen, ob Orwells Erlebnisse in Stuttgart und Deutschland sein literarisches Werk beeinflusst hatten. In „Farm der Tiere“ verarbeitet er seine Zeit im spanischen Bürgerkrieg, als die Kommunisten statt gegen die Anhänger Francos zu kämpfen, die Anarchisten und Trotzkisten aufs Korn nahmen. Rodoreda denkt, dass sich in „1984“ widerspiegelt, was Orwell in einem zerstörten und zerrüttetem Land gesehen hatte.
Reportagen für zwei Zeitungen
„ . . . Die Franzosen durchsuchten Haus für Haus und verhafteten nicht nur jeden in Uniform, sondern jeden männlichen Zivilisten unter dem Verdacht, er habe zur Wehrmacht oder dem Volkssturm gehört. Die Zahl der Gefangenen war so groß, dass man sie in den Tunneln unter dem Hauptbahnhof festsetzte. Wie üblich war der alte Stadtkern dem Erdboden gleichgemacht worden, und die reizlosen Vororte sind davongekommen. Ich war bei einer Mittelschicht-Familie in den Vororten einquartiert. Wie die meisten Deutschen (. . .) hofften sie, dass so viel wie möglich von Deutschland von Amerikanern und Briten und so wenig wie möglich von Franzosen und Russen besetzt wird.“
Der abtrünnige Winston Smith (John Hurt, li.) wird von dem Parteifunktionär O`Brien (Richard Burton) verraten und einer brutalen Gehirnwäsche unterzogen. Aus dem Film „1984“. Foto: SWR-Pressestelle/Fotoredaktion/SWR/Degeto
Als er Ende Mai nach England zurückkehrt, fängt er an, „1984“ zu schreiben. „Mit den Erfahrungen des Kriegs frisch im Kopf“, sagt Rodoreda. Bisher spielte diese Erfahrungen keine Rolle für die Biografen, sie widmen dessen Kriegserlebnissen nur wenig Seiten. Was zum einen daran liege, glaubt Rodoreda, dass am 29. März Orwells Frau Eilleen während einer Operation starb. Diese persönliche Tragödie habe die Arbeit als Kriegsreporter überlagert. Was vielleicht auch erklärte,warum er keine Briefe von der Front nach Hause schrieb. Es gibt keine anderen Aufzeichnungen als seine Artikel.
Orwell begegnet zwei SS-Offizieren. Den einen beschreibt er als „in keiner Weise beängstigend, . . . und auf eine niedrige Art intellektuell. Seine blassen, verschlagenen Augen waren durch eine starke Brille deformiert. Er hätte ein ungeweihter Priester sein können, ein von Alkohol ruinierter Schauspieler oder ein spiritistisches Medium.“ Der zweite SS-Offizier war ein großer, muskulöser Mann.“ Interessanterweise ist der Spion und Folterknecht O’Brien aus „1984“ eine Mischung aus diesen beiden Offizieren, bedrohlich wie ein Boxer, mit intelligentem Blick wie ein Priester. Zufall?
Die Reste des Stuttgarter Rathauses. Foto: dpa/A0009
„Deutschland, das bereits in einem Ausmaß verwüstet ist, das man sich hierzulande nicht vorstellen kann, soll noch effizienter ausgeplündert werden als nach Versailles. Überall herrscht unbeschreibliche Verwirrung, Zerstörung von Häusern, Brücken, Eisenbahnschienen, Überflutung von Kohlegruben, Knappheit an jeglichem Bedarf.“
Rodoreda sagt: „Die Welt von Orwells ,1984’ ähnelt jener, die er in Deutschland erlebt hat.“ Die ruinösen Stadträume von „1984“ lassen an die „Bombenruinen“ eines „stark geplünderten“ Stuttgarts denken. Auch in England bei der Orwell Society hat man das Buch wahrgenommen. Die Gesellschaft, die sich mit dem Werk Orwells befasst und von seinem Adoptivsohn geleitet wird, überlegt, nach Stuttgart zu kommen. Auf den Spuren Orwells.
Französische Panzer in der Epplestraße in Degerloch. Foto: Archiv StN
So wie es Rodoreda mit seinen Studenten immer macht. Eine Vorlesung hält er am Berger Steg. Und dann erzählt ein Australier, der nach 25 Jahren in Stuttgart schon längst Schwabe ehrenhalber ist, seinen Studenten aus aller Welt darüber, wie George Orwell einst hier über die Brücke ging.
Und wie seine Eindrücke eines zerstörten Stuttgarts und eines an Leib und Seele versehrten Deutschlands in seinen berühmtesten Roman eingeflossen sind. Eine versöhnliche Szene, die 1945 undenkbar schien. Nicht immer müssen Dystopien Wirklichkeit werden.
Das Buch
Lesung Am Mittwoch, 7. Mai, stellt Geoff Rodoreda sein Buch „George Orwell in Stuttgart, Nürnberg, Köln“ um 19 Uhr im Theater La Lune in Gablenberg vor. Das Buch ist im Verlag 8 Grad erschienen, es kostet 24 Euro.