80 Jahre Kriegsende Der große Hunger kam erst nach dem Krieg

Jedes Salatblatt ist wichtig: Selbstversorger in Stuttgart, 1942. Foto: Stadtarchiv, Montage: Ruckaberle

Die Stuttgarter Zeitzeugen Werner Günther und Rolf Blank erinnern sich sehr gut an die Not zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor allem die Mütter mussten dafür sorgen, dass Essen auf den Tisch kam.

Rolf Blank muss immer noch lachen, wenn er an diese Geschichte denkt: Eine halbe Brotscheibe hatte jeder der beiden Buben von seiner Mutter bekommen. Etwas Zucker darauf. Mehr nicht. Ein kleiner Schatz in Zeiten des Krieges, als fast jede Familie in Stuttgart streng haushalten musste, um etwas Essbares auf dem Tisch zu haben.

 

„Ich saß mit einem Freund vor unserem Haus. In dem Moment hat ein Vogel direkt aufs Brot geschissen“, erinnert sich der 86-Jährige. Wegwerfen? Nein. Der Freund habe kurzerhand die unerwünschte Beilage mit dem Finger von der Brotscheibe gekratzt und ließ es sich dann schmecken.

Das Gespräch mit den beiden Zeitzeugen Werner Günther und Rolf Blank findet im Café des Altenhilfezentrums Breitwiesenhaus in Gerlingen statt, wo die beiden heute leben. Werner Günther ist noch einmal fast zehn Jahre älter als Blank. Die 95 Jahre sieht man dem hellwachen Senior nicht an.

Blanks Anekdote zeigt gut, welchen Wert Nahrung in den Kriegsjahren hatte. „Essen gab es ja nur für Marken“, erzählt Günther. Alles war von Staatsseite streng rationiert. „Man musste gut einteilen können.“ Die Mutter sei es gewesen, die darauf achtete, was im Laufe eines Monats knapp wurde und von welchen Lebensmitteln noch ausreichend vorhanden war, um die Familie satt zu bekommen. Der Vater sei als Eisenbahnschaffner viel unterwegs gewesen.

Film zeigt den Mangel

Neben den Bombennächten ist in der Erinnerung vieler Zeitzeugen bis heute der Mangel der Kriegsjahre präsent. Beides thematisiert unsere Zeitung mit der Filmreihe „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“. Gemeinsam mit dem Stadtarchiv zeigen Filme aus der Kriegsfilmchronik den Alltag und das Verwaltungshandeln dieser Jahre – jedenfalls so, wie das Naziregime es für die Nachwelt festhalten wollte.

Den mit Lebensmittelkarten verwalteten Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs musste auch Familie Günther spüren. Ergänzt wurde der dürftige Speiseplan mit dem, was der kleine Garten in der Eisenbahnersiedlung hergab. „Wir bauten zum Beispiel Tomaten und Bohnen an“, erinnert sich der 95-Jährige an das Leben Auf der Prag, wie er den Stadtteil seiner Kindheit heute noch nennt: „Ohne den Garten in der Rümelinstraße wäre die Ernährung weniger vielfältig gewesen.“

„Wir bauten zum Beispiel Tomaten und Bohnen an“, erinnert sich Werner Günther. Foto: Torsten Schöll

Gingen Günther oder Blank mit ihren Müttern mit neuen Lebensmittelkarten Essen einkaufen, hatte man stets entsprechende Behälter und Säcke dabei. „Die Milch wurde im Laden direkt in eine Milchkanne geschöpft, die man mitgebracht hat“, erinnert sich Blank. Und Günther bestätigt: „Da war nichts abgepackt.“

Was man nicht kennt, vermisst man nicht

Dass es eine Zeit des Mangels war, sei den Kindern nicht unbedingt bewusst gewesen, sagt Blank, der sich später als Logotherapeut beruflich mit traumatischen Erfahrungen auseinandersetzte. „So etwas wie Bananen hat uns nicht gefehlt, weil wir gar nicht wussten, dass es sie gibt“, betont er. Auch dass sich die Jungs in Blanks Viertel manchmal um die Rossbollen auf der Straße gestritten haben und es dabei durchaus Prügel von den Älteren setzen konnte, sei „nicht schlimm“, sei „einfach so gewesen“. Die Hinterlassenschaften von Pferden waren begehrt, weil die, wie auch der eigene Urin, zum Düngen genutzt wurden.

Blick zur Wohnanlage in der Rümelinstraße, wo Werner Günther aufwuchs Foto: Stadtarchiv / 101-FN250-1049

Um an Lebensmittel zu kommen, scheute man fast keinen Weg. Blank erinnert sich, wie er mit seiner Mutter per Anhalter zum großelterlichen Bauernhof nach Kirchberg an der Jagst gefahren war, um dort Eier, Kartoffeln, Schmalz zu holen. Aufbewahrt habe die Familie die Eier im heimischen Keller in einem steinernen Behälter, der gefüllt war mit sogenanntem Wasserglas. In dieser gallertartigen Masse waren Eier luftdicht abgeschlossen und hielten sich einige Wochen. Ähnlich verfuhr man mit Roten Rüben oder Kartoffeln, die in einer Sandkiste vergraben wurden, um sie zu konservieren.

Auch daran, dass viele während des Krieges im Wald Bucheckern sammelten, die man anschließend zu einer Ölmühle brachte, erinnern sich die beiden Männer. Oder dass die Städter bei den Filderbauern verhasst waren, wenn diese zum Betteln hinauf nach Echterdingen kamen und dabei auch die letzten Ähren von den abgeernteten Feldern aufsammelten.

Um an Nahrung zu kommen, fuhr Rolf Blank mit seiner Mutter bis nach Kirchberg an der Jagst. Foto: Torsten Schöll

Gut möglich, dass sich hier im Einzelnen Erinnerungen aus den letzten Kriegsjahren mit solchen aus der ersten Nachkriegszeit vermischen. Denn sowohl Günther als auch Blank betonen: „Richtig gehungert haben wir erst nach Kriegsende.“ Nach der Kapitulation sei die Versorgung in der Stadt zeitweise eingebrochen. „Da ist man dann wirklich zu den Bauern und hat geschaut, was man bekommt“, sagt Günther.

Woran sich der heute 95-Jährige auch noch gut entsinnt: Dass seine Schulklasse 1943 aufs Land verschickt worden war, um vor der Bombardierung Stuttgarts geschützt zu sein. „Da musste ich als 14-Jähriger in Süßen im Landkreis Göppingen auf einem Hof mithelfen“, erzählt Günther.

Bombennächte sind bis heute präsent

Dem damals, kurz vor Kriegsende, kaum sechs Jahre alten Blank haben sich die Bombennächte, die nun immer zahlreicher wurden, ins Gedächtnis eingebrannt: das tiefe Brummen der Flugzeugmotoren, die sogenannten Christbäume, also Leuchtmunition, die an Fallschirmen abgeworfen wurden, um das Gefechtsfeld zu markieren, das Wimmern der Mütter im Keller und die Einschläge, die Zerstörung und Tod brachten.

Eines Nachts sei er mit seiner Familie und den Nachbarn im Luftschutzkeller seines Wohnhauses in der Schurwaldstraße gesessen und habe miterleben müssen, wie das Haus über ihm dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Feuerwehr habe die Bewohner später durch ein Kellerfenster aus dem verschütteten Gebäude befreit, erzählt Blank. „Das Haus hat danach noch gebrannt, auf der Straße lagen Leichen.“ Die schrecklichen Bilder gehen ihm bis heute nicht aus dem Kopf.

Für Günther, der schon ab 1944 eine Ausbildung bei der Firma Fortuna machte, endete der Zweite Weltkrieg beinahe mit einer großen Dummheit, wie er erzählt: Denn zum Schluss wurde der fast 16-Jährige noch zum Volkssturm eingezogen. Mit den zurückgelassenen Waffen einer vor dem französischen Einmarsch geflohenen österreichischen Kompanie planten die alleingelassenen Jungen, auf die Panzer zu schießen. Es wäre sein Tod gewesen, glaubt Günther. „Gott sei Dank haben uns einige ältere Eisenbahner von diesem Blödsinn abgehalten.“

Stuttgart im Zweiten Weltkrieg

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