80 Jahre Kriegsende Eindrücke aus der „Frontstadt“ Stuttgart

Durch die Trümmer spazieren in einer Stadt aus Ruinen: Eindrücke aus unserem Film zur Reihe „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“ Foto: Stadtarchiv / Montage: Ruckaberle

1944 traf der Luftkrieg Stuttgart mit voller Härte. Unser Film zeigt die Folgen der Luftangriffe in kaum bekannten Bewegtbildern.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Bei den 53 Luftangriffen auf Stuttgart im Zweiten Weltkrieg wurden mehr als 4500 Menschen getötet und bis Kriegsende mehr als die Hälfte aller Wohnungen unbewohnbar gemacht. Diese Fakten sind bekannt – sie beschreiben 80 Jahre nach Ende des Kriegs in Deutschland zumindest summarisch das Leid der Luftangriffe.

 

1944, im Jahr der schlimmsten Angriffe auf Stuttgart, hielt der Dokumentarfilmer Jean Lommen die Folgen in insgesamt vier Filmen für die städtische Kriegsfilmchronik fest. Ausschnitte aus diesen Clips sind im neuesten Film unseres Gemeinschaftsprojekts mit dem Stadtarchiv im E-Paper sowie auf unserer Website zu sehen.

Gefilmt wurden die Zerstörung des Alten und Neuen Schlosses, von Wohngebieten in der Innenstadt sowie die Trümmerlandschaft rund um den Marktplatz. Mal entsteht ein vergleichsweise aufgeräumter Eindruck mit am Straßenrand angesammelten Trümmern, mal sieht man totale Zerstörung.

Filme lagerten im Stadtarchiv

Die Filme sollten vermutlich nach dem Krieg gezeigt werden, schlummerten aber jahrzehntelang im Stadtarchiv. Sie fügen den vielen, anlässlich 80 Jahren Kriegsende wieder zu sehenden Bildern vom zerstörten Stuttgart neue Blickwinkel hinzu und sind allein deshalb von historischem Wert. Zugleich wählen sie einen bestimmten, eben vom Naziregime geprägten Blick auf die Folgen der meist als Terrorangriff bezeichneten Bombardements ein, bei denen ähnlich wie bei den deutschen Angriffen auf Großbritannien statt kriegswichtiger Ziele eher Wohngebäude oder scheinbar beliebige Teile des Stadtgebiets angegriffen wurden. Wie sind die Bilder von den Folgen dieser Angriffe zu bewerten?

Stuttgarter Trümmerlandschaft 1944 Foto: Stadtarchiv, Screenshot Plavec

„Wir sehen keine Toten, wir sehen nicht die psychisch schwer belastende Bergung der teilweise stark entstellten Opfer“, sagt der Stadtarchiv-Historiker Günter Riederer, „und wir sehen auch nicht, wer für die Räumung des Schutts eingesetzt wurde.“ In erster Linie seien dies Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene gewesen. Zudem vermittelten auch die Filme von der Zerstörung eine ganz bestimmte Botschaft: „Menschen auf der Straße, vorbeifahrende Autos und funktionierende Straßenbahnen suggerieren eine scheinbare Normalität – trotz Krieg und Luftangriffen.“

Während des Kriegsverlaufs verschoben sich die Dinge. Zu Kriegsbeginn und in den ersten Kriegsjahren suggerierte die Propaganda eine Art Unverwundbarkeit. Als Mittel gegen die Luftangriffe wurden Jagdflieger, Flugabwehrkanonen auf dem Birkenkopf oder der Wangener Höhe und ein System zur künstlichen Vernebelung präsentiert. Noch im Mai 1942 war die Royal Air Force überzeugt, dass ein Angriff auf Stuttgart bei Tageslicht reiner Selbstmord sei. Im darauffolgenden Jahr verlor das Deutsche Reich die Lufthoheit und die Vernebelung war gegen die neuen Radarsysteme nutzlos.

In Stuttgart konnten in der zweiten Kriegshälfte wegen der Topografie genügend Pionierstollen in die Hänge getrieben werden, um große Teile der Bevölkerung nahe ihres Wohnorts zu schützen. Dazu kamen große Bunker und Stollen an zentralen Orten. Doch all diese im 1940 eingerichteten Luftschutzamt koordinierten Maßnahmen konnten die Zerstörung weiter Teile der Stadt im Jahr 1944 nicht verhindern.

Gefilmt wurde nicht unmittelbar nach dem Angriff. Man sieht keine Löscharbeiten, die Straßen sind vielfach von Schutt und Trümmern befreit. Die Schäden sind freilich massiv: fehlende Dächer oder Seitenwände legen offenes Fachwerk frei, Stiftskirche und Hospitalhof, das Neue Schloss mit Resten der Tarnnetze oder auch weite Teile der Johannesstraße sind kaputtgebombt, ebenso das Gewerkschaftshaus und das nur noch als Hülle existierende Rathaus mit der historisierenden Fassade.

Das zerstörte Neue Schloss mit Resten der Tarnnetze Foto: Stadtarchiv / Screenshot Plavec

Eine Einstellung im Film ist Günter Riederer besonders aufgefallen. Zu sehen ist die zerstörte Nymphenskulptur des Bildhauers Johann Heinrich Dannecker am damals noch runden Eckensee. „In Großaufnahme ist der Kopf der Wassernymphe im Gras liegend zu sehen. Ich würde das als Stellvertreterbild für die echten, die menschlichen Opfer interpretieren“, so Günter Riederer. Zumal der Feuersturm beim Angriff vom September 1944 sehr viele Menschen das Leben kostete.

Leben ging weiter – „so gut es eben möglich war“

Waren die Bilder damals so gemeint, wie sie auf heutige Betrachter wirken? Beim Durchsehen der insgesamt vier im Stadtarchiv verwahrten Filme zur Zerstörung wirken die immer gleichen Schwenks über kaputte Fassaden und Schuttberge ermüdend. Vorstellbar ist, dass sie nach dem Krieg im Kontrast zu den bereits damals ausgearbeiteten Plänen für einen modernen Um- und Neubau Stuttgarts gezeigt worden wären.

Wie die Bevölkerung die Angriffe erlebte, davon können die letzten lebenden Zeitzeugen berichten – aber auch die Bilder und die Stimmungsberichte aus dieser Zeit. Im Film sieht man Menschen, die mit Schaufeln durch die Straßen laufen oder sich von den Trümmern Brauchbares mitnehmen. Gezeigt werden Aufräumarbeiten und ausgebrannte Autowracks. „Man muss es sich wohl so vorstellen, dass das Leben in Stuttgart, so gut es eben möglich war, weiterging“, sagt Riederer, „auf jeden Fall soll das mit diesen Filmaufnahmen bewiesen werden.“

Teilweise half Raubgut aus dem Ausland, etwa ein im Januar 1944 in Stuttgart eingetroffener Zug mit 48 Waggons voller geraubter Möbel aus Paris. Zumindest im Jahr der großen Zerstörungen 1944 war die Stimmung in der Stadt vergleichsweise stabil, auch wenn der Glaube an den „Endsieg“ laut Stimmungsberichten verflogen war. Der Oberbürgermeister Karl Strölin bezeichnete Stuttgart im August 1944 als „Frontstadt“. Die Folgen sieht man bis heute.

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