Noch nie in der Bundesrepublik hat es so lange gedauert, den Willen der Wähler in eine Regierung zu übersetzen. Doch historische Vergleiche mit der Weimarer Republik verstellen den Blick auf Wesentlicheres.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Es herrscht gerade ein historischer Ausnahmezustand. 99 Tage haben nicht ausgereicht, den bei der Bundestagswahl ermittelten Volkswillen in eine regierungsfähige Koalition zu übersetzen. Erstmals seit den Wirren der Wiedervereinigung beginnt in Deutschland ein neues Jahr ohne reguläre Regierung. Damals dauerte die Interimszeit, während der die erweiterte Bundesrepublik nach der ersten gesamtdeutschen Wahl nur geschäftsführend regiert wurde, nicht länger als fünf Wochen. So lange braucht die SPD allein für eine Antwort auf die Frage, ob sie mit Angela Merkel Koalitionsgespräche führen möchte. In fast 70 Jahren deutscher Zeitgeschichte war die Furcht vor staatspolitischer Verantwortung nie größer.

 

Der Jahreswechsel bietet Anlass, noch weiter zurück zu blicken: Vor einem Jahrhundert wurde Deutschland Republik, der Bürger zum wirklichen Souverän. Es war keine ungelernte, aber eine ungeliebte Demokratie, die damals eine aus dem Mittelalter tradierte Herrschaftsform ablöste. Der Kaiser floh ins Exil. Von Revolution war die Rede. Die Sozialdemokraten drängten nicht danach, die Macht zu übernehmen, konnten sich aber nicht lange zieren.

Es gäbe Gründe, 100 Jahre deutsche Demokratie zu feiern

Eigentlich gäbe es viele Gründe, jene Epochenwende zu feiern: die erste allein dem Volk verpflichtete Verfassung, das Frauenwahlrecht, eine dem Parlament verantwortliche Regierung, bürgerliche Freiheiten, verbriefte Grundrechte. Doch die Weimarer Republik, von deren Geburtsstunden hier die Rede ist, zählt zu den schwierigen Kapiteln deutscher Geschichte. Sie mündete in einer Katastrophe.

Mit der Erinnerung an Weimar erwachen Gespenster unserer Vergangenheit. Sie werden auch heute wieder beschworen: unklare Mehrheiten, polarisierte Debatten, die Eroberung der Parlamente durch eine Rechtsaußen-Partei, Demokratieverdrossenheit, die SPD im Dilemma zwischen Staats- und Parteiräson – viele fühlen sich da an Weimarer Verhältnisse erinnert.

Ist das schon Hysterie oder nur ein schiefer Vergleich? Weimar scheiterte am fehlenden Willen zum Konsens, einem Mangel an verantwortungsbereiten Demokraten. Am Ende war die erste deutsche Republik auf parlamentarischem Wege unregierbar. Eine geradezu tragische Rolle spielte dabei die SPD. Große Koalitionen im heutigen Sinne gab es damals nicht, auch keine Volksparteien. Niemals hatten zwei Bündnispartner eine Mehrheit im Reichstag. Die großen Koalitionen der Weimarer Zeit waren abenteuerlicher als eine Expedition nach Jamaika. Sie hielten meist nur wenige Monate. Die letzte parlamentarisch legitimierte Regierung ließ die SPD platzen – wegen einer Lappalie, verglichen mit dem, was folgte. Es ging um Sparmaßnahmen bei der Arbeitslosenversicherung. Im Hintergrund hatten die rechten Totengräber der Republik auf dieses Scheitern hin gearbeitet. Für die einzig konsequent staatstragende Partei war ihre Mitverantwortung gleichwohl fatal.

Berlin ist nicht Weimar

Das wird die Allergie der sozialdemokratischen Urenkel gegen eine große Koalition kaum vertreiben. Berlin ist nicht Weimar. Die Verhältnisse von damals sind mit der Gegenwart nicht vergleichbar: von Inflation oder Massenarmut blieb Deutschland im 21. Jahrhundert bisher verschont. Weimar werfe nicht länger einen Schatten auf die Bundesrepublik, so der Historiker Eckart Conze, sondern ein Schlaglicht, das ihre Gefährdungen besser sichtbar werden lasse. Dazu zählen eine wachsende Verunsicherung, Regierungsüberdruss, die Zersplitterung und Verhetzung des politischen Diskurses und nicht zuletzt Parteiegoismen, denen mehr Gewicht beigemessen wird als den Staatsinteressen. Es wäre trotz allem gut, wenn die Verächter großer Koalitionen, die Neuwahl-Spekulanten und die experimentierfreudigen Sympathisanten von Minderheitskabinetten das nicht aus dem Blick verlieren würden.