Die Geschichte, die der aus dem Irak stammende Autor Abbas Khider erzählt, liegt schon eine Weile zurück, doch sie könnte aktueller nicht sein. Denn sein Roman „Die Ohrfeige“ schildert ungeschützt den Alltag von Flüchtlingen in Deutschland.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - An Berichten über das Schicksal von Flüchtlingen herrscht in diesen Tagen wahrlich kein Mangel. Viele Journalisten tun erfreulicherweise ihr Möglichstes, um jenen Gesicht und Stimme zu verleihen, die gemeinhin nur als zu bewältigende Quantität und unter anonymen Herkunftsmerkmalen wie nordafrikanisches oder arabisches Aussehen rubriziert in Erscheinung treten. So unverzichtbar diese Anstrengungen sind, bleiben sie an der Oberfläche, zumindest gemessen an dem Anspruch, der Literatur und Journalismus voneinander scheidet.

 

Romane nämlich sind nicht gebunden an die Verallgemeinerungen und Regeln, von denen die öffentliche Meinung ebenso lebt wie die gesellschaftliche Praxis, die die Integration derer zu leisten hat, die ihre Heimat verloren haben. Literatur überschreitet per se die Grenzen. Das macht sie zum Mittel der Wahl für diejenigen, deren Leben im Überschreiten von Grenzen besteht, seien sie national, kulturell oder juristisch. Literatur macht sichtbar, was sich den geltenden Übereinkünften nicht fügt. Aus dem fiktionalen Abstand resultiert ihr Erkenntnisgewinn. Und so kann die Fantasie eines bekifften Nachmittags die Augen für die Realität weiter öffnen als tausend Reportagen.

Zur Wahrheit des Asyl gehört die Lüge

Karim Mensy, der Held von Abbas Khiders Asylantenroman „Die Ohrfeige“ überbrückt die Zeit, bis ein Schlepper ihn von München nach Finnland bringen wird, mit dem Rauchen eines ordentlichen Joints. Und im Dämmer seiner schweifenden Fantasie stellt er sich vor, er hätte die für seinen Asylantrag zuständige Sachbearbeiterin mit einer Ohrfeige betäubt und an ihren Stuhl gefesselt. Endlich soll sie einmal zuhören, die Wahrheit erfahren wie bei einer Beichte. Und warum zur Wahrheit auch die Lüge gehört.

Was er erzählt, spielt zu einer Zeit, in der ein Asylbewerber noch mit 80 Mark im Monat auskommen musste, Saddam Hussein den Irak zugrunde richtete und der sich daran anschließende Krieg das Land zu einer „Kampfarena der Weltmächte und Verrückten“ machte. Und doch ist diese Geschichte so aktuell wie am ersten Tag, und wird mit jedem Flüchtlingstreck, der das Land erreicht, aktueller, denn hier erfährt man, wie es sich anfühlt, wenn die Bürokratie zum Vollstrecker der humanitären Überzeugungen wird, die sich eine Gesellschaft zugutehält.

Nichts wird beschönigt

Eigentlich sollte Karim von einem Schlepper zu Verwandten nach Paris geschleust werden. Doch nach einer Odyssee durch Europa steht er irgendwann in Unterhosen im verschneiten Nirgendwo, das sich als Bayern herausstellt. Die Polizei greift ihn auf, er landet in einem Münchner Asylantenheim, wird von dort nach Bayreuth weiterverlegt – Beirut glaubt er zunächst zu verstehen – und endet vorerst in Niederhofen an der Donau.

Khider und sein Held beschönigen nichts. Wir erhalten Einblick in die Strukturen, in denen sich hier das Leben der Illegalen organisiert: Kulturvereine, in denen keine Kultur, sondern das zum Überleben notwendige vermittelt wird, Scheinehen, Geldtransfers, Schwarzarbeit. Wir schlagen mit Karim im Asylantenheim die Zeit tot, wo hauptsächlich unverheiratete Männer, eingehegt vom Wort Residenzpflicht, vegetieren wie eine Horde Affen und „Wochenendbesucher“ zwielichtige Kontakte pflegen: Dealer, Freier, Zuhälter. Und wir erfahren, dass die wichtigste Grundregel lautet: „Niemals die Wahrheit sagen.“

Doch bevor man nun unruhig zappelt, weil man die Bestätigung aller gegenüber Asylbewerbern gehegten Klischees zu erhalten glaubt , sollte man erst einmal weiter zuhören wie jene gefesselte Frau Schulz in ihrem Büro, die sonst gottgleich mit einem Federstrich über Existenzen entscheidet.

Nicht nur Folter kann das Leben zur Hölle machen

Wie alle Iraker hat Karim so viel Tragisches erlebt, dass es für mehrere Menschenleben gereicht hätte, aber nicht für das deutsche Asylsystem. Ganz bewusst wählt Khider als Fluchtursache kein politisches, sondern ein individuelles Motiv: Gynäkomastie – seinem Held waren Brüste gewachsen, die Angst, gedemütigt und vergewaltigt zu werden treibt ihn aus dem Land. Sein Traum, ein normaler Mann zu werden, hängt an einem Deutschkurs, er ist die Voraussetzung, einmal studieren zu können und das Geld für einen medizinischen Eingriff zu erwerben. Der Widerruf seiner schließlich erlangten Asylberechtigung macht ihn zunichte. Nach dem Fall Saddam Husseins bestehe kein Grund mehr, im Land zu bleiben, dafür erhalten nun die Schergen des Diktators Asyl.

Vielleicht sind die Brüste nicht nur der wunde Punkt am männlichen Körper Karims, sondern auch in der Dramaturgie des Romans. Mit ihnen ragt ein Symbol in den realitätsgesättigten Text, dessen Bedeutungsabsicht stärker ausgeprägt ist als seine Wahrscheinlichkeit. Gleichwohl bleibt wahr, was damit gesagt werden soll: dass die Wechselfälle des Lebens unendlich vielfältiger sind als die rigiden Regeln und Bestimmungen, die über die Schutzbedürftigkeit des Einzelnen entscheiden. Nicht nur Folter und Verfolgung können das Dasein zur Hölle machen.

Den Launen der Polizei ausgeliefert

Was hinter Karim liegt, hat der 1973 im Irak geborene Autor und Chamissopreisträger Abbas Khider so ähnlich am eigenen Leib erfahren – bis auf die Brüste: Flucht und ein Leben in der Illegalität. Was nun vor seiner Romanfigur liegt, blüht all denen, die durch die Maschen des Asylsystems gefallen sind. „Wir sind alle wie die geschmacklosen und billigen Produkte aus dem Ausland, die man bei Aldi und Lidl finden kann“, beschreibt Karim seine Situation, „wir werden mit dem Lastwagen hierhergeschleppt wie Bananen oder Rinder, werden aufgestellt, sortiert, aufgeteilt und billig verkauft. Was übrig bleibt, kommt in den Müll.“

Es ist nicht die Aufgabe von Romanen, Antworten auf die Frage zu geben, wie groß die Aufnahmekapazität einer Gesellschaft sei oder wie sie ihre Aufgaben zu bewältigen habe. Aber sie können eine eigene Form der Gerechtigkeit kultivieren, die endlich einmal auch die Sichtweise derer berücksichtigt, die sonst immer nur von außen betrachtet werden, die vor Gericht einen schweren Stand haben, die Behördenschikanen ausgesetzt sind und den Launen der Polizei: „Wenn einem von ihnen ein Furz quer sitzt, wird das Leben von uns Ausländern sehr kompliziert.“

Vor dem Tribunal des Lesers hat der Begriff der Menschlichkeit eine andere Erstreckung als im Reich der Paragrafen. Es liegt an ihm, was er an Romanfiguren schätzt, an die Wirklichkeit zurückzugeben.