Verkehrsminister Scheuer will in Brüssel Druck machen, um die EU-Grenzwerte zu lockern, Umweltministerin Schulze sieht keinen Anlass dafür. Der Brief, der den Streit angefacht hat, stößt in der Fachwelt auf breite Ablehnung.

Berlin/Stuttgart - Aus der unterschiedlichen Bewertung der EU-Abgasgrenzwerte, die seit vergangener Woche durch einen Brief mehrerer Lungenärzte neu debattiert wird, hat sich ein Koalitionskrach entwickelt. Das SPD-geführte Bundesumweltministerium von Svenja Schulze und das Verkehrsministerium unter der Leitung des CSU-Politikers Andreas Scheuer bewerten die jüngsten fachlichen Debattenbeiträge völlig unterschiedlich und sind deshalb auch uneins darüber, ob die Bundesregierung auf dieser Grundlage in Brüssel für eine Überprüfung der geltenden Stickoxid-Grenzwerte eintreten soll.

 

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„Es gibt einen breiten wissenschaftlichen Konsens über die derzeitigen Grenzwerte für Stickoxide“, sagte Schulze am Montag. Inhaltlich unterstützt wurde sie dabei von Christian Witt, einem Lungenspezialisten der Berliner Charité, der davon berichtete, dass die weltweite wissenschaftliche Debatte eher in Richtung noch strikterer Werte gehe. „Ich sehe überhaupt keinen Anlass dafür, sie abzuschwächen“, schlussfolgerte denn auch Schulze. Die Ministerin argumentiert zudem, dass die Werte 2013 mit dem aktuellen Forschungsstand abgeglichen wurden – und die nächste Überprüfung durch die EU-Kommission bereits läuft und Ende des Jahres abgeschlossen sein soll.

Umwelt- und Verkehrsministerium sind uneins bei Konsequenzen

Im Verkehrsministerium wird das ganz anders gesehen. „Die Demonstrationen in Stuttgart sind Beleg für den großen Unmut der Dieselfahrer, auf den wir als Verantwortliche reagieren müssen – und zwar jetzt, nicht erst, wenn die EU-Kommission ihre Prüfung abgeschlossen hat“, sagte Staatssekretär Steffen Bilger (CDU). Sein Minister, der es am Montag als „Alarmsignal“ bezeichnete, wenn Experten „von willkürlichen Grenzwerten sprechen“, will deshalb seine europäischen Amtskollegen zum Handeln animieren. „Auch Minister Scheuer weiß, dass es nicht einfach und etwas dauern wird, die Grenzwerte auf EU-Ebene zu verändern“, erläuterte Bilger die ministeriellen Reisepläne.

Umwelt- und Verkehrsministerium liegen in der Frage, welche Konsequenzen aus dem Dieselskandal zu ziehen sind, seit Beginn über Kreuz – erst Anfang Oktober bereinigte ein Koalitionsgipfel zumindest vorübergehend den Streit über Hardwarenachrüstungen älterer Dieselmodelle. Verschiedener Meinung waren die Ressorts auch, als es darum ging, ob die Stickoxid-Messstellen dahingehend überprüft werden müssten, ob sie möglicherweise näher als von der EU-Richtlinie vorgeschrieben an der Straße stehen. „Die Streiterei zwischen den Ministerien ist chronisch“, stellt Grünen-Fraktionsvize Oliver Krischer fest, „das wird sich auch nicht ändern, solange die CSU im Verkehrsministerium hockt und alles gegen die Wand fährt.“

Zweifel an Stellungnahme von Lungenarzt Köhler

Dicke Luft herrscht auch atmosphärisch. „Leider braucht die Umweltministerin immer etwas länger, bis sie berechtigten Zweifeln nachgeht, die es in Bezug auf die Grenzwerte schon lange gibt“, ärgerte sich Bilger am Montag öffentlich: „Diese Unentschlossenheit haben wir bei Svenja Schulze auch schon bei den Messstellen festgestellt, ehe sie dann unter dem Druck doch einer Überprüfung zustimmen musste.“ Die Ministerin konterte: „In den letzten Tagen wurden viele Fakten verdreht und die Menschen verunsichert.“

Indes sind die Reaktionen der Fachwelt auf die medienwirksame „Stellungnahme“ des Lungenarztes Dieter Köhler und seiner Unterstützer eindeutig. So kritisiert der Vizechef des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts, Nino Künzli, dass weder Köhler noch die anderen Hauptautoren zu den Wirkungen von Luftschadstoffen geforscht hätten. Eigene Studien können die Initiatoren nicht vorweisen. Ihnen fehle „die Einsicht über die Grenzen der eigenen Kompetenzen“.

Einige Unterzeichner haben nicht einmal einen medizinischen Hintergrund. Dazu zählt Wolfgang Koch vom Karlsruher Institut für Technologie. Der Ingenieurwissenschaftler ist Experte für Verbrennungsmotoren und hat zehn Jahre lang bei Daimler in der Dieselmotoren-Entwicklung gearbeitet. Matthias Klingner, Chef des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme in Dresden, ist Informatiker und Kybernetiker. Zahlenmäßig stellen die Grenzwertskeptiker ohnehin ziemlich isoliert da. Von den rund 4000 Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie haben gut 100 Köhlers Aufruf unterzeichnet. Der größte Fachverband von Lungenärzten hatte erst im November in einem Papier die Risiken von Luftschadstoffen klar herausgestellt.

Merkel versucht, den Streit zu entschärfen

Christian Witt von der Berliner Charité verweist darauf, dass Luftschadstoffe zu den bestuntersuchten Substanzen gehörten. Ihre schädliche Wirkung werde durch rund 70 000 wissenschaftliche Publikationen belegt. „Die Ansicht der Autoren, dass es keine wissenschaftliche Rechtfertigung für die derzeitigen Grenzwerte für Luftverschmutzung gibt, kann im Angesicht der überwältigenden wissenschaftlichen Evidenz nicht bestehen“, sagt auch Jonathan Grigg, Professor für pädiatrische Atmungs- und Umweltmedizin an der University of London. „Besonders enttäuschend“ sei, dass die Kritik von Ärzten stamme.

Die Kanzlerin versucht jetzt, den Streit auf ihre Weise zu entschärfen. So berichtete ihr Sprecher Steffen Seibert am Montag von Kontakten mit der Leopoldina als Nationale Akademie der Wissenschaften, die eine „wissenschaftliche Klärung“ und „fundierte gemeinschaftliche Position“ herbeiführen könne. Damit wandte sich Angela Merkel indirekt dagegen, allein die jüngste Debatte zum Anlass einer politischen Initiative in Brüssel zu machen – ohne dies für einen späteren Zeitpunkt auszuschließen.