Die Abilektüre „Tauben im Gras“ sorgt für Diskussionen. Eckhard Schumacher vom Wolfgang-Koeppen-Archiv ist nicht überrascht. Eine Behandlung des Romans in der Schule hält er für anspruchsvoll, aber möglich.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Die Proteste wegen der Auswahl des Romans „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen für das schriftliche Abitur in Baden-Württemberg wollten nicht verstummen. Das Kultusministerium im Land hat nun regiert, Lehrerinnen und Lehrer dürfen ihren Schülerinnen und Schülern auch eine Alternativlektüre vorlegen. Eckart Schumacher vom Wolfgang-Koeppen-Archiv in Greifswald hat dafür Verständnis, wenn Lehrkräfte mit Koeppens Werk fremdeln. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt der Literaturprofessor, wo die Probleme des Buchs liegen, wie eine Behandlung dennoch gelingen kann – und warum diese auch lohnenswert sein könnte.

 

Herr Professor Schumacher, hat Sie die scharfe Debatte um Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ in Baden-Württemberg gewundert?

Einerseits ja. Der Text war ja schon in anderen Bundesländern Teil des Zentralabiturs, mehrfach in Nordrhein-Westfalen und ich meine auch in Berlin. Soweit ich das verfolgt habe, gab es da keine Einwände dieser Art. Andererseits hat sich die Debatte verändert. Dass ein Roman, in dem so häufig das N-Wort vorkommt, zu Einwänden führt, ist von daher nicht so verwunderlich. Es wird sensibler auf bestimmte Formulierungen und Schreibweisen reagiert als das früher der Fall war.

Um was geht es eigentlich in dem Buch?

„Tauben im Gras“ lässt sich relativ klar datieren und lokalisieren. Es spielt in in einer bayrischen Großstadt, vieles deutet auf ein leicht fiktionalisiertes München, in der unmittelbaren Nachkriegszeit um 1950. Wir haben eine Konstellation, in der noch Besatzer da sind und in der sonstige Bevölkerung da ist, die unter anderem aus ehemaligen oder aktiven Nationalsozialisten besteht. Es gibt also Befreier und Täter, die vor wenigen Jahren noch politisch aktiv waren. Koeppen fokussiert einen Tag – so wie etwa James Joyce in „Ulysses“. Er erfindet eine Vielzahl von Szenen, Schauplätzen und Figuren und stellt sie nebeneinander, lässt sie miteinander kommunizieren. Es ist also ein fiktionaler Text, der aber mit Sprechweisen, Haltungen und Positionen arbeitet, die es in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Bundesrepublik gegeben hat.

Nicht zum ersten Mal wird über das N-Wort in Literatur diskutiert. In Kinderbüchern von Otfried Preußler oder Astrid Lindgren wurde es einfach gestrichen.

Das geht hier nicht, weil es Bestandteil des Gesamtprojekts ist, nicht einfach eine literarische Sprache zu erfinden, mit der man eine Geschichte erzählt, sondern mit literarischen Mitteln darzustellen, wie die Situation zu dieser Zeit in München war. Da können Sie schlecht einzelne Begriffe ersetzen, die genau das transportieren, was transportiert werden soll, nämlich Sprechweisen und Haltungen. Sie können das nicht abmildern, ohne den Charakter des Textes zu entstellen.

Es wird an dem Text kritisiert, auch Juden würden sehr klischeehaft dargestellt.

Das ist durchaus der Fall. Es gibt Darstellungen, die gängige Klischees aufnehmen, es gibt aber auch interessante Durchbrechungen der Klischees, überraschende Wendungen und Konstellationen. Was vielleicht zu der heutigen Irritation führt: Es gibt in diesem Roman keine Instanz, die gewissermaßen klärt, wie das alles zu verstehen ist. Wir haben keinen Erzähler, der über allem schwebt, alles einordnet oder kommentiert, der deutlich macht: hier handelt es sich um Rassismus, um Antisemitismus oder eine klar nationalsozialistische Position im Nachkriegsdeutschland. Das ist eine literarische Entscheidung von Koeppen.

Die Instanz ist also der Leser selbst. Der kann den Roman dann verstehen, wie er will.

Einerseits verfolgt Koeppen keine klare politische Agenda. Andererseits schafft er schon einen Text, in dem klar wird: Hier entlarven sich diejenigen selbst, die mit dem N-Wort um sich werfen, die weiterhin agieren wie im Nationalsozialismus.

Wie könnten Lehrkräfte, die sich entscheiden „Tauben im Gras“ weiterhin als Abipflichtlektüre zu behandeln, im Unterricht vorgehen?

Leider hilft die literaturwissenschaftliche Koppen-Forschung da gar nicht so gut. Es gibt keinen Aufsatz – was ja denkbar wäre – , der sich damit auseinandersetzt, dass das N-Wort dort so gehäuft auftritt und was das für die heutige Lektüre heißt. Es wäre aber möglich, sich aktuelle Positionen anzuschauen: Wie geht man mit verletzender Sprache um, wie mit Rassismen in der Sprache? Und wie geht man damit um, wenn solche Rassismen aufgenommen, zitiert, reproduziert werden? Diese Forschung gibt es ja. Und da gibt es sicherlich auch für den Schulunterricht aufbereitetes Material. Das müsste dann auf den in mehrfacher Hinsicht historischen Text bezogen werden, der in seiner Schreibweise und nicht zuletzt auch in seiner drastischen Darstellung von Rassismen, Gewalt und Sexualität an Autoren wie James Joyce oder John Dos Passos erinnert und damit an die literarische Moderne anschließt, die die Nationalsozialisten ausgestrichen hatten.

Das klingt anspruchsvoll.

Ja, und das ist möglicherweise nicht einfach nebenher im laufenden Schuljahr zu leisten, aber es wäre eben eine angemessen anspruchsvolle und wohl auch enorm aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Fragen, die 1950 relevant waren, aber nur von wenigen gestellt wurden, und die auf andere Weise heute wieder oder immer noch relevant sind.

Verwalter des Koeppen-Erbes

Wissenschaftler
Eckhard Schumacher, 1966 geboren, promovierte an der Uni Bielefeld und ist seit 2009 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Uni Greifswald und als solcher Leiter des dortigen Wolfgang-Koeppen-Archivs. 2011 erhielt er einen Ruf nach Tübingen, lehnte aber ab.

Nachlass
Das Wolfgang-Koeppen-Archiv ist eine Einrichtung der Uni Greifswald und verwahrt den Nachlass des Schriftstellers. Koeppen wurde 1906 in Greifswald geboren. Er starb 1996 in München. Sein wichtigstes Werk ist die „Trilogie des Scheiterns“, zu der auch „Tauben im Gras“ gehört.