Die Schweizer verfügen eigentlich über ein gutes und vielseitiges Bildungssystem. Beim Uni-Nachwuchs allerdings hapert es – und es gibt starke Kräfte, die dass gar nicht schlimm finden.

Baar - Wenn Schweizer Eltern ihre Sprösslinge nach sechs Jahren Primarschule aufs Gymnasium schicken wollen, werden sie zum „Übertrittgespräch“ gebeten. Beim Treffen mit dem Lehrer werden Eltern und Schüler gebeten, wie bei einem Gesellschaftsspiel mit Plastikstöpseln auf einem „Schulfeld“ anzuzeigen, wo sie die gewünschte schulische Zukunft sehen. Wenn es mit der „Kanti“, wie das Gymnasium umgangssprachlich heißt, klappen soll, braucht man jede Menge „Sechser“ – was in der Schweiz der Note „sehr gut“ entspricht. Und in zahlreichen Kantonen gibt es sogar noch eine zusätzliche obligatorische Aufnahmeprüfung.

 

Trotz dieser strengen Auswahl boomt die „Kanti“ in den letzten Jahren aufgrund des Bevölkerungswachstums und der Zuwanderung. Immer mehr Eltern streben die Matura für ihre Kinder an, die sie als bestes Ticket für den Berufseinstieg wähnen. In den letzten 25 Jahren ist die Nachfrage nach bestens qualifizierten Personen stark gestiegen. Für viele dieser Stellen fehlen den Eidgenossen die Fachkräfte. In den Spitälern kommt daher nach wie vor meist ein deutscher Arzt zur Visite.

Eine Abiturquote weit unter deutschem Niveau

Im internationalen Vergleich steht die Schweiz jedoch weiterhin schlecht da: Ihre Abiturquote liegt nur bei rund 20 Prozent. Dies ist etwa im Vergleich zu Deutschland mit einer Quote von mehr als 40 Prozent verschwindend gering.

Trotz des offenkundigen Akademikermangels gibt es jedoch in der Schweiz keinen breiten Konsens, dass mehr Schüler das Abitur machen sollten. Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich sieht sogar die Notwendigkeit, den Zugang weiter zu begrenzen. „Im Gymnasium sind viele Kinder, die nicht dorthin gehören“, kritisiert sie in einem Interview der „Luzerner Zeitung“. Untersuchungen hätten ergeben, dass rund 30 Prozent der Kinder einen zu niedrigen Intelligenzquotienten für diese Schulstufe haben. Stern warnt, dass dadurch viele nicht die notwendigen „kognitiven Fähigkeiten“ für die Universität mitbringen. „Dadurch drücken sie das Niveau, scheitern im Studium oder kommen später in berufliche Positionen, denen sie intellektuell nicht gewachsen sind.“ Sie plädiert dafür, zusätzlich zu den obligatorischen Aufnahmeprüfungen Intelligenztests einzuführen.

Die Matura genießt kein hohes Ansehen

Für Thomas Claviez, Deutscher und seit Jahren Professor für Literaturtheorie an der Universität Bern, ist dagegen klar: „Es müssen einfach mehr Schweizer Kinder aufs Gymnasium.“ Der 54-jährige sieht neben den strengen Aufnahmeregeln noch andere Gründe für den Akademikermangel. „Da das Angebot an beruflichen Alternativen groß ist, fassen viele Studierende einen Uni-Abschluss erst gar nicht ins Auge.“ Die Schweiz sei zur Reproduktion der Eliten historisch schon immer auf ausländische Fachkräfte angewiesen gewesen. „Und darüber hinaus existiert verbreitet eine Mentalität, die nicht bereit ist, die Extra-Meile zu gehen, wenn es etwa um Überstunden geht.“

Die Matura genießt in der Schweiz generell kein allzu hohes gesellschaftliches Ansehen – im Vergleich etwa zur Berufsmaturität, die man über zähe Anstrengungen durch Lehre und gewerbliche Schule erreichen und über die man es sogar per „Passerelle“, einer Art Ergänzungsprüfung, noch auf die Uni schaffen kann. Auch eine weit verbreitete Abneigung gegenüber zu viel Theorie sorgt dafür, dass nur ein Viertel aller „Kanti“-Schüler nach der Matura auf die Uni gehen – viele andere bewerben sich lieber gleich für finanziell lukrative Traineeprogramme bei Banken und Versicherungen und absolvieren, wenn überhaupt, erst später eine akademische Ausbildung.

Die SVP stützt die Skepsis gegenüber Akademikern

Und es gibt tatsächlich hochbegabte Kinder mit lauter „Sechsen“ im Zeugnis, deren handwerklich geprägte Eltern ihnen erst mal zu einer Berufslehre raten, anstatt auf die „Kanti“ zu gehen: „Damit unser Sohn nicht so lange auf die Schule gehen muss und früher Geld verdienen kann.“

Wer „e Lehr“ macht, gehöre eben zum Volk, stellt der Zürcher Historiker Philipp Sarasin fest. Ein gesellschaftspolitischer Ansatz, der nicht nur bildungsfeindlich wirkt, sondern vor allem von der SVP, der stärksten Partei im Nationalrat, favorisiert wird. Denn die Blocher-Partei hat ihre Ursprünge auf dem Land bei den Bauern. Die Rechtsbürgerlichen werden nicht müde, vor arbeitslosen Akademikern und einer akademisierten Berufswelt zu warnen – auch um ihre Wähler unter den Handwerkern und mittleren Unternehmern nicht zu vergraulen. Und nicht zuletzt spart der Schweizer Staat durch den Import von Akademikern eine Menge Geld. Allein ein Studienplatz für Medizin wird mit 150 000 bis 250 000 Franken veranschlagt.