Herr Kuhn, Ihr letztes Amtsjahr war und ist geprägt von der Corona-Pandemie. Was macht Corona mit der Stadt und mit der Stadtgesellschaft?
Die Stadt ist nicht wiederzuerkennen. Die Bewegungsfreiheit der Menschen ist eingeschränkt, die Kultur stillgelegt, der Einzelhandel leidet. Das alles ist gravierend. Doch die Politik muss dafür sorgen, dass die Leute geschützt sind. Deshalb bin ich sehr für diesen harten Einschnitt. Angesichts der steigenden Corona-Zahlen hätte er schon früher kommen können.
Was kann die Stadt tun, um wirtschaftliche und soziale Folgen abzufedern?
Es gibt städtische Hilfen, etwa für die Kultur. Aber entscheidend sind natürlich die Hilfen von Bund und Land. Ich kann nur hoffen, dass die Stützungsmittel schneller fließen als die sogenannten Novemberhilfen, die zum Teil immer noch ausstehen. Unsere Hauptaufgabe als Stadt ist es, dafür zu sorgen, dass die Infektionsketten nachvollzogen werden können. Unser Gesundheitsamt arbeitet hervorragend. Was die sozialen Folgen betrifft, haben wir in Stuttgart glücklicherweise ein sehr gutes Netz an sozialen Diensten. Und es gibt eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.
Wie groß ist das Verständnis bei den Leuten für die staatlichen Maßnahmen?
Es gibt eine große Zustimmung für die staatlichen Maßnahmen. Was die Menschen aber ärgert, ist die politische Kakofonie, die in den vergangenen Wochen geherrscht hat. Niemand wusste so recht, was jetzt gilt. Man muss die Maßnahmen gut begründen, dann ist die Akzeptanz dafür auch vorhanden.
Werden wir im Januar und Februar in einen weiteren harten Lockdown gehen müssen?
Ob wir am 10. Januar unter dem Wert von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sein werden, kann man heute nicht sagen. Das hängt davon ab, wie sich die Menschen jetzt verhalten. Dieser Wert ist entscheidend, wenn es um die Nachverfolgung der Infektionsketten und um die Belastung unserer Klinken geht. Wenn dieses Ziel nicht erreicht ist, wird der Lockdown weitergehen müssen.
Ihr Tübinger Amtskollege Boris Palmer ist bundesweit hoch gelobt worden, weil er frühzeitig Risikogruppen in den Blick genommen, Schnelltests und Extra-Taxis organisiert hat. Hätten Sie in Stuttgart mehr machen müssen?
Das stimmt ja so nicht ganz. Herr Palmer hat sich eben erst selbst korrigieren müssen. Tatsache ist: Wir bieten in Stuttgart längst Schnelltests in den Alten- und Pflegeheimen für Bewohner, Personal und Besucher an, haben das aber nicht rausposaunt, weil wir nicht sicherstellen können, dass es in allen Heimen so läuft. Das hängt auch von den Trägern ab. Stuttgart muss sich hinter Tübingen jedenfalls überhaupt nicht verstecken, wir sind nur etwas zurückhaltender und unaufgeregter im Vermarkten von Erfolgen.
Befürchten Sie Kapazitätsgrenzen in den Kliniken, wie Sie vereinzelt bereits in der Region aufgetreten sind?
In Stuttgart sind wir durch die Vielzahl der Kliniken gut dran. Sie arbeiten hervorragend zusammen. Ich bin sehr froh, wie gut das städtische Klinikum ausgestattet ist und geführt wird. Bei der Gelegenheit möchte ich mich bei der Ärzteschaft, dem Pflegepersonal und der Führung für ihren Einsatz bedanken. Das gilt auch für unser Gesundheitsamt und die Unterstützung durch die Bundeswehr. Ich frage mich allerdings, wie lange wir das durchhalten. Die Leute schaffen wie die Bürstenbinder. Deshalb appelliere ich an die Bürgerinnen und Bürger, sich impfen zu lassen, wenn die Impfstoffe da sind. Das schafft Entlastung.
Haben Sie Ihre Entscheidung bereut, nicht nochmals als Oberbürgermeister anzutreten, nachdem Sie im Laufe des Jahres gesehen haben, was Corona an Herausforderungen mit sich bringt?
Nein, die Entscheidung war ja gründlich überlegt. Ich bin jetzt 65. Am Ende einer zweiten Amtszeit wäre ich 73. Für mich war ausschlaggebend, dass ich nach 40 Jahren in der Politik nicht glaubwürdig versprechen konnte, weitere acht Jahre anzufügen. Eigentlich hätte ich im letzten Amtsjahr das Thema Klimaschutz vorantreiben wollen. Stattdessen leite ich den Corona-Krisenstab und stecke viel Zeit in den Abwehrkampf gegen Corona.
In Ihrer Partei wird diskutiert, ob das schlechte Abschneiden der Grünen bei der OB-Wahl damit zusammenhängt, dass Sie sich so spät entschieden haben. Wie stehen Sie dazu?
Das kann ich nur zurückweisen. Ich habe allen gesagt, dass ich mich erst in den Weihnachtsferien entscheiden werde. Die 14 Tage hab ich zusammen mit meiner Frau intensiv genutzt, und dann haben wir entschieden. Mir hat nur keiner geglaubt, dass die Entscheidung noch offen war. Allen, die sagen, man hätte mehr Zeit für die Kandidatensuche gehabt, wenn ich mich früher entschieden hätte, sage ich: Das ist eine Illusion. Diejenigen, die hätten antreten können, hätten es trotzdem nicht gemacht. Ich bin da mit mir im Reinen.
Haben die Grünen ein Nachwuchsproblem?
Eindeutig nein! Alle Parteien wären froh, wenn sie so viele tolle junge Leute hätten. Als Gründungsmitglied überblicke ich die Grünen seit über 40 Jahren und kann ganz klar sagen: Es gab Zeiten, da war die Personaldecke viel dünner als heute. Dass die OB-Wahl nicht geklappt hat, hatte andere Gründe.
Welche?
Ich kommentiere den OB-Wahlkampf nicht, wir haben das Grünen-intern diskutiert. Die Partei muss sich jetzt auf die Landtagswahl im März konzentrieren. Die wollen wir nämlich gewinnen.
War es Ihnen wichtig, dass Ihre Nachfolgerin oder Ihr Nachfolger das grüne Parteibuch hat?
Ich kann Ihnen versichern, dass es mir in der Seele wehtut, dass wir die Wahl nicht gewonnen haben. Für mich ist das sehr schmerzhaft, zumal die Grünen im Gemeinderat die stärkste Fraktion stellen. Ich glaube aber nicht, dass man aus der OB-Wahl ableiten kann, dass es mit den Grünen bergab geht. Es kommt drauf an, die vier grünen Landtagswahlkreise wieder zu gewinnen.
Apropos: Sollte Ministerpräsident Kretschmann gewinnen, wird er dann die vollen fünf Jahre im Amt bleiben?
Da müssen Sie ihn selber fragen. Er kandidiert für fünf Jahre, und er ist ja gut beieinander. Trotzdem ist klar, irgendwann wird sich die Nachfolgefrage stellen, aber die wird nicht vom scheidenden Stuttgarter OB entschieden.
Auf welches Projekt sind Sie in Ihrer Amtszeit besonders stolz, und bei welchem Thema sagen Sie, das hätte ich anders anpacken müssen?
Ich habe ja jüngst eine Bilanz meiner acht Jahre als Oberbürgermeister vorgelegt. Wichtig ist mir, dass beim Thema Klimaschutz und Verkehr zentrale Weichenstellungen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung gelungen sind, die ich für unumkehrbar halte. Es sind auch etliche neue Kulturprojekte entstanden – vorneweg die Sanierung der Wagenhallen. In zähem Ringen ist es außerdem gelungen, die Villa Berg einer Heuschrecke zu entreißen und der Stadtgesellschaft als Ort der Kultur zurückzugeben. Stolz bin ich auch auf die Integration der 8500 Flüchtlinge, die hier angekommen sind. Stuttgart ist die Stadt der Integration geblieben. Unzufrieden bin ich, dass wir nicht mehr Sozialwohnungen gebaut und nicht mehr bezahlbaren Wohnraum geschaffen haben. Es war mir aber auch wichtig, die Balance zwischen Wohnungsbau und Flächenverbrauch zu halten. Stuttgart muss eine grüne Stadt bleiben.
Trotz der Errungenschaften, die Sie aufzählen, hat sich der Eindruck des „Stillstands“ in der Stadt verfestigt. Wie erklären Sie sich das?
Ich kann das nicht bestätigen. Wenn man wach durch die Stadt läuft, sieht man, dass sich Stuttgart verändert hat. Ich hab als OB vieles gesät, werde aber nicht alles ernten können. Das ist bei Oberbürgermeistern immer so. Ich bin definitiv kein Leuchtturm-Typ, ich habe mich auf die Verbesserung einer Infrastruktur der Nachhaltigkeit konzentriert. Da ist sehr viel geschehen.
Warum hat es mit der Opernsanierung nicht geklappt?
Zusammen mit dem Wissenschafts- und dem Finanzministerium habe ich ein schlüssiges Gesamtkonzept für einen Interimsbau und die Sanierung des Littmann-Baus vorgelegt. Land, Stadt und Staatstheater haben an einem Strang gezogen, und ohne Corona hätten wir das noch beschlossen. Jetzt muss es auf das nächste Jahr verschoben werden. Geschadet hat in dem Prozess, dass ständig neue Vorschläge dazugekommen sind. Ich kann nur sagen: Stuttgart lebt von seiner Oper, seinem Ballett und seinem Schauspiel. Für die Frage, wie man Stuttgart gut vermarktet, ist die Sanierung der Oper von allergrößter Bedeutung. Dem kann niemand ausweichen.
Ihr Nachfolger Frank Nopper hat eine Imagekampagne angekündigt. Braucht es das?
Imagekampagnen können Sie nur machen, wenn die Probleme an der Basis gelöst sind. Beim Feinstaub hab ich mit dem Instrument des Feinstaubalarms eine Art negativer Imagekampagne gemacht. Die Bürger und die Wirtschaft mussten aufgeweckt werden. Das ist gelungen, die Feinstaubwerte werden jetzt eingehalten. Natürlich muss Stuttgart auch in positiver Hinsicht an seinem Image arbeiten. Das hab ich mit dem ersten Wissenschaftsfestival getan. Im Forschungsbereich ist Stuttgart weltweit ein Hotspot, aber keiner weiß es. Hier kann man sicher noch mehr fürs Image tun.
Das Thema Integration hat durch die sogenannte Krawallnacht im Juni einen Dämpfer erhalten. War das der schwierigste Moment in Ihrer Amtszeit?
Das war in der Tat ein schwieriger Moment, weil alle massiv erschrocken waren über das Gewaltpotenzial in dieser Nacht, das es allerdings auch in anderen Städten gibt. Wir haben das in der Folge schnell gelöst. Wir haben einen Sicherheitspakt mit dem Land geschlossen und setzen mehr Streetworker ein.
Wie sehen Sie die Zukunft Stuttgarts? Die wirtschaftliche Transformation hat ja gerade erst begonnen.
Ich gehöre nicht zu denen, die nur das Negative sehen. Wer andauernd nur schimpft und an der eigenen Stadt rumkrittelt, macht sie kaputt, statt sie aufzubauen. Diese Jammerhaltung muss man durchbrechen. Die Frage ist: Gelingt die Transformation von der autogerechten Stadt zu einer Stadt nachhaltiger Mobilität schnell genug oder nicht? Wenn es gelingt, geht’s uns gut, wenn nicht, geht’s uns schlecht. Die technologischen Kapazitäten, dass es gelingt, sind vorhanden. Wir dürfen uns aber nicht blenden lassen: Daimler geht es aktuell gut, weil das Chinageschäft läuft, und nicht, weil der Transformationsprozess schon gelungen wäre. Ganz wichtig war es mir in dem Zusammenhang, den Dienstleistungsbereich zu stärken. Ich bin sehr zufrieden, dass wir die Allianz in Stuttgart halten konnten, gerade wegen der Arbeitsplätze. Wir stehen auch bei Start-ups nicht schlecht da. Das muss man pflegen und vorantreiben. Wenn dann auch noch die Kultur stimmt, ist es mir um Stuttgart nicht bange, zumal der Bürgersinn in der Stadt ja gut entfaltet ist. Ich sehe jedenfalls überhaupt keinen Grund, dass wir mit einem Seufzer über Stuttgart reden. Im Gegenteil: Wenn wir weniger rumschimpfen würden, würden wir mehr erreichen. Stuttgart hat alle Potenziale für eine gute Zukunft.
Reichen Start-ups aus, um aufzufangen, was durch den Transformationsprozess an Arbeitsplätzen verloren zu gehen droht?
Start-ups können sicher nicht alles ausgleichen, aber wir können auf das Neue als Treiber nicht verzichten. Wir werden kurzfristig Arbeitsplätze verlieren. Entscheidend ist aber, dass man vor die Entwicklung kommt, statt ihr hinterherzulaufen. Nur so kann man neue Arbeitsplätze schaffen.
In Stuttgart wird es nach dem Willen des Gemeinderats keine Formel-E-Rennen geben. Ist das nicht auch eine Imagefrage, oder geht Image nur über die Oper?
Das war sicher nicht gut. Ich war dafür, denn wir brauchen in der Tat Entscheidungen, die auch eine symbolische Qualität haben. Ein Formel-E-Rennen nach Stuttgart zu bringen wäre ein gutes Zeichen gewesen. In einem Gemeinderat mit wechselnden Mehrheiten gewinnt man aber nicht immer.
Wie wichtig ist Ihnen die Ehrenbürgerwürde zum Abschied? CDU, SPD und Linke sind wenig geneigt, Sie damit, wie Ihre Vorgänger, auszuzeichnen.
Das Ehrenbürgerrecht ist eine Entscheidung des Gemeinderats, das kommentiere ich nicht. Das macht der Gemeinderat, oder er macht es nicht.
Am 6. Januar endet nicht nur Ihre Amtszeit als OB, sondern auch Ihre lange Karriere als Grünen-Politiker. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihr politisches Leben zurück?
Ich habe ein sehr reiches politisches Leben hinter mir und ganz Tolles erleben dürfen, dafür bin ich dankbar – vom Kreisvorstand in Tübingen über den Landtag, den Grünen-Landes- und -Bundesvorsitz, den Fraktionsvorsitz im Bundestag und das Amt des Oberbürgermeisters. Es war mir eine Ehre, OB von Stuttgart zu sein.
Was werden Sie nach dem 6. Januar machen?
Mit Sicherheit werde ich ausschlafen. Ich bleibe politisch interessiert und engagiert. In welcher Form, wird sich zeigen.
Bleiben Sie in Stuttgart wohnen?
Ja, meine Frau und ich bleiben hier! Stuttgart ist eine schöne Stadt und ungeheuer attraktiv für Menschen, die an Kultur und Natur interessiert sind.