Bevor Jossi Wieler, der scheidende Opern-Intendant, Stuttgart den Rücken kehrt, erklärt er bei einem Spaziergang, was sich an der Stadtautobahn ändern muss. Außerdem spricht er zum ersten Mal über seine jüdischen Wurzeln.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Jetzt wagt er sich aber gefährlich nah an die Autobahn. Jossi Wieler, der scheidende Intendant der Oper Stuttgart, muss gegen das Auspuff-Orchester vor seinem Arbeitsplatz anbrüllen. Die Verkehrssituation vor der Spielstätte, die sieben Jahre lang seine Heimat war, lässt ihn nicht los. Schon vor längerer Zeit hat er in Bezug auf die B 14 die Losung „Rasen statt rasen“ ausgegeben, und noch heute, mit einem Bein schon fast in Berlin, ist ihm das Thema eine Herzensangelegenheit.

 

Daher wollen wir zum Abschied flanieren, an der aus der Perspektive des Fußgängers schrecklichen Konrad-Adenauer-Straße entlang. Und wie bestellt treten immer wieder Passanten heran, die sich bei Wieler für seine Arbeit bedanken. So viel Wärme zum Abschied hat einen Grund: Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins für Schurke und zehn für menschlichen Hauptgewinn steht, belegt Wieler locker eine Elf. Dieses stille, wissende Lächeln, dieses Zurückgenommene stellt in seiner Position eine große Ausnahme dar.

Die letzten Worte werden von einer Polizeisirene übertönt

Als Intendant musste ihn die Schneise vor dem Großen Haus eigentlich nicht interessieren, er hatte ja andere Sachen zu tun. Diese Ecke der Stadt, Kulturmeile genannt, beschäftigt ihn aber: „Das gibt es in keiner anderen Stadt: Staatsgalerie, Schauspielhaus, Landesbibliothek, Stadtpalais, Institut für Auslandsbeziehungen, Kunstmuseum, Landesmuseum. Warten Sie ab, wie das sein wird, wenn die Bibliothek fertig gebaut ist und man sich mit einem Kaffee auf die Treppen vor das Gebäude setzen kann, mit Blick auf das Alte Schloss.“

Die letzten Worte werden von der Sirene eines Polizeifahrzeugs übertönt. „Das hier muss eine Promenade werden. Andere Städte haben das auch geschafft.“ In Stuttgart gebe es zunächst meist Widerstände gegen den großen Wurf. Um das zu verdeutlichen, benutzt Wieler auf einmal einen Twist, den man von ihm nicht kennt: Er imitiert Schwäbisch auf köstliche Weise: „,Derf’s a bissle meh sei’? – Noi danke, lieber net.‘ Denken Sie an das Kunstmuseum, die anfängliche Ablehnung gegen die Pläne und wie das Haus heute gefeiert wird.“

Wielers heimliches Talent: er kann überragend Schwäbisch imitieren

Das nicht herablassende, sondern respektvolle Schwäbisch-Imitat wird Wieler im Gespräch immer wieder einstreuen. Jetzt aber erst wieder Hupen, Rauschen, Rasen. Daher schnell weg vom verkehrspolitischen Erbe der 60er Jahre in Richtung Akademiegarten. Als Wieler 1986/87 zum ersten Mal in Stuttgart inszeniert, stellt kaum einer die Stadtautobahn infrage, man muss vielmehr für den Frieden und gegen Atomkraft kämpfen. „Man hat die Autos vor der Nase so akzeptiert und nicht hinterfragt“, sagt Wieler, „gerade in dieser Stadt hatte das Auto halt Vorfahrt“ und zeigt auf den Künstlereingang der Oper. Hier stand einst der Schicksalsbrunnen, der längst im Schlossgarten eine neue Heimat gefunden hat. Früher ratterten an dieser Stelle keine Autos vorbei, sondern die Straßenbahn. Heute muss der Fußgänger um sein Leben fürchten, wenn er von der Oper oberirdisch in Richtung Staatsgalerie gehen möchte – so ähnlich, als würde man die A 8 auf der Höhe Sindelfinger Wald überqueren wollen. „Natürlich fahre ich auch gerne Auto“, erzählt Wieler. „ In den 90er Jahren hat man dann aber angefangen, sich über die Stadtautobahn vor dem eigenen Arbeitsplatz zu wundern.“

Einst fuhr hier die Straßenbahn, heute rasen Autos im Akkord vorbei

Kurzer Stopp am Eckensee: Bänke aus Waschbeton, Jossi Wieler verzieht den Mund ganz leicht, mehr Entsetzen geht bei ihm nicht. „Sachlichkeit, Nüchternheit“, sagt Wieler, und meint doch Hässlichkeit, Herzlosigkeit. „Des isch des schönschte Naherholungsgebiet in Schtuttgart“, spöttelt er über den Eckensee. „Landschaftsarchitekten müssten den See neu denken. Warum sollte hier nicht auch ein fließendes Gewässer möglich sein? Die Leute tun so, als wäre das hier die Binnenalster.“

Wieler fordert, den Eckensee mitsamt der Oper zu sanieren

Das klingt fast so, als sei Wieler genervt von einer Art Provinzialität. Tatsächlich trägt er seine Ideen in einer tiefenentspannten Art vor, mit den Worten eines Mannes, der in vielen anderen Städten gelebt hat. Selbst wenn er einem erklären würde, dass man der größte Grasdackel auf Erden ist – was dieser höfliche Mensch niemals tun würde –, würde man ihm fröhlich die Hand schütteln und für seine angenehme Analyse danken.

Wir schneiden kurz sein Herzensthema an, die Opernsanierung. Das Becken sei ein heißes Eisen, aber: Warum solle hier keine Interimsspielstätte möglich sein? Man dürfe nicht das Haus sanieren, den Eckensee so lassen und sich dann anschließend fragen lassen: „Warum hänt ihr des net glei mitgmacht?“ Weiter geht es in Richtung Karlsplatz. Wieler sinniert im Laufschritt über die reiche Landeshauptstadt, die, wie er sagt, immer noch etwas Dörfliches habe. „Wie nah mir diese Stadt ist, wie viel Energie sie mir gegeben hat.“

Es folgt vom Karlsplatz bis ins Dorotheen-Quartier ein Loblied auf das Stuttgarter Publikum. „Wie neugierig die hier sind, die wollen lernen, anders als in Berlin oder München.“ Kurz vor Louis Vuitton bedankt sich eine feine Dame bei Wieler, im Prinzip für alles. Was ihn an Stuttgart gestört hat: „Hier gibt es eine Verhöhnung des Platz-Gedankens: Charlottenplatz, Gebhard-Müller-Platz, Österreichischer Platz, was soll daran bitte ein Platz sein?“

Deshalb das Finale des Wieler-Flanierens auf dem Oppenheimer-Platz, der einem versöhnlichen Platzgedanken näher kommt, um über Wielers jüdische Wurzeln zu sprechen. Wieler setzt seine Sonnenbrille ab, „damit wir uns tiefer in die Augen schauen können.“ Der scheidende Intendant stammt aus einer jüdischen Familie vom Bodensee, die wegen der Nazis 1933 in die Schweiz emigriert ist.

Wieler wuchs in einer kleinen jüdischen Gemeinde in Kreuzlingen auf. „Ich definiere mein Judentum historisch und gesellschaftlich“, sagt er, „meine Suche nach Dialog. Meine Selbstironie, das Bestreben, mich nicht zu ernst zu nehmen, das ist mein jüdischer Anteil“, sagt Wieler, erzählt dann von seinen Geschwistern und seiner Familie, die nach der Emigration aus Deutschland in Kreuzlingen Land kauft, um einen jüdischen Friedhof anzulegen.

Am Oppenheimer-Platz spricht er über seine jüdischen Wurzeln

Als Wieler 21 Jahre alt ist, wandert er mit einer einzigen Kiste im Gepäck nach Israel aus, um an der Universität von Tel Aviv Regie zu studieren. „Dort habe ich in der Unibibliothek eine drei Monate alte Ausgabe von ,Theater heute‘ in die Hände bekommen, mit Texten über die Schaubühne und über Pina Bausch, da wurde Dramaturgie ganz neu gedacht. Das waren Experimente, von denen man nur träumen konnte, und das in meiner Muttersprache!“ Also zieht es ihn nach Deutschland, zunächst nach Düsseldorf, und viele Stationen später schließlich landet er in Stuttgart.

Dieser Lebensabschnitt geht nun zu Ende. Was wünscht er sich für eine Rückkehr in einigen Jahren? „Ein fließendes Gewässer vor der sanierten Oper. Und ein Kulturquartier, durch das ich auf der Konrad-Adenauer-Ramblas promenieren kann.“