Die Anti-Immigrations-Kampagne der britischen EU-Gegner erzeugt weiter Turbulenzen auf der Insel - die dem Pro-EU-Lager neue Hoffnung geben. Sogar eine frühere Partei-Präsidentin der Tories rückt nun ab von Brexit. Unterdessen wurde in Westminster die ermordete Abgeordneten Jo Cox geehrt.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Immer deutlicher sind zu Wochenbeginn Brüche im Lager der britischen EU-Gegner – der Brexit-Kampagne – zutage getreten. Prominente Brexit-Befürworter aus der Konservativen Partei versuchen, sich vom Ukip-Vorsitzenden Nigel Farage abzusetzen, bekriegen sich aber auch untereinander. Am Montag kehrte die frühere Tory-Parteipräsidentin Baronin Warsi der Brexit-Kampagne den Rücken, obwohl sie, wie sie beteuerte, „immer Euroskeptikerin“ gewesen sei.

 

Sayeeda Warsi, eine Anwältin und Politikerin pakistanischer Herkunft, die bis vor zwei Jahren auch der Regierung David Camerons angehörte, erklärte, sie könne die Brexit-Seite nicht länger unterstützen, weil diese nur „Hass und Fremdenhass“ verbreite. Ihrem Parteikollegen Michael Gove, dem Justizminister, warf sie vor, „totale Lügen“ in die Welt zu setzen – wie zum Beispiel über einen baldigen EU-Anschluss der Türkei.

Zum Feldzug Farages gegen Einwanderung und zu einem heiß umstrittenen Plakat von Ukip, das einen Strom syrischer Flüchtlinge auf dem Marsch durch Europa zeigt, sagte Warsi, damit werde nur „Hass“ geschaffen und die Bevölkerung auf gefährliche Weise „gespalten“. Die Brexit-Befürworter, erklärte sie, rückten bedenklich in die Nähe der Britischen Nationalpartei (BNP), Donald Trumps, Marine Le Pens und der Freiheitlichen Partei Österreichs: „Jeden Tag hat man das Gefühl, dass die radikale Rechte sich mehr an die Seite der Brexit-Kampagne stellt.“ Alles, was man vom Brexit-Lager zu hören bekomme, sei: „Die Türken kommen, die Syrer kommen, die Flüchtlinge kommen, die Moslems kommen, die Terroristen kommen.“ Das sei für sie „einfach zu viel“.

EU-Gegner überspannen den Bogen

Auch eine andere prominente Tory-Politikerin, die Abgeordnete Sarah Wollaston, hatte sich jüngst wegen des Tons der Brexit-Kampagne aus deren Reihen abgesetzt. Immer mehr gemäßigte EU-Gegner befürchten, dass das Brexit-Lager in Sachen Immigration den Bogen überspannt hat. Premierminister David Cameron, der die Pro-EU-Seite anführt, erklärte bei einem Fernsehauftritt, die Brexit-Seite habe „ein Klima der Feindseligkeit und Intoleranz“ in Großbritannien geschaffen. Farages Wahlplakat sei „nichts als ein Versuch, die Bevölkerung zu verängstigen und zu spalten“. Cameron fügte noch hinzu: „Die Stimme von Jo Cox wird in unserer Kampagne zum Verbleib in der EU schmerzlich vermisst.“ Farage, der Ukip-Führer, warf dem Regierungschef darauf hin vor, den „tragischen“ Tod der Abgeordneten „politisch auszubeuten“.

Cox, eine 41-jährige Labour-Parlamentariern und Mutter zweier Kinder, war am Donnerstag vergangener Woche in ihrem Wahlkreis in West-Yorkshire am helllichten Tag und auf offener Straße ermordet worden. Ihr mutmaßlicher Mörder, der am Montag im Londoner Old Bailey dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde, unterhielt offenbar Kontakte zu rechtsextremistischen Gruppen. Nach seinem Namen gefragt, hatte der Mann erklärt: „Mein Name ist: Tod den Verrätern, Freiheit für Britannien.“

Wie am Montag bekannt wurde, hatte Jo Cox noch wenige Tage vor ihrer Ermordung an einer Dokumentation über die Zunahme rechtsradikaler Aktivitäten in ihrer Heimat Yorkshire mitgearbeitet. Allein die Angriffe gegen Moslems in Yorkshire sollen im Vorjahr um 80 Prozent zugenommen haben. In Nordengland, aber auch in anderen Teilen Englands erfreuen sich rechtsextreme Gruppen zunehmender Popularität.

Studie sieht Ähnlichkeiten zur äußersten Rechten

Einer Untersuchung der „Financial Times“ (FT) zufolge war während der Referendumskampagne „die Rhetorik der äußersten Rechten schwer zu unterscheiden von der der Brexit-Gruppen“. Letzte Woche noch habe die BNP ihre Mitglieder darüber „informiert“, dass demnächst 80 Millionen Türken „nach Europa strömen“ würden. Ähnliches hatten Minister Gove und Ukip-Chef Farage suggeriert. In der Tat hatten sich Rechtsradikale mehrfach Brexit-Kundgebungen angeschlossen und sich vor allem mit Nigel Farage ablichten lassen. „Die EU-Referendums-Kampagne gab rechten Randgruppen die Chance, gemeinsame Sache mit der Anti-EU- und der Anti-ImmigrationsPartei Ukip sowie mit der euroskeptischen Rechten der Konservativen Partei zu machen“, urteilte der Report.

Gedenken an Jo Cox

Unterdessen gedachte das britische Parlament am Montag in einer Sondersitzung und einem Gottesdienst seines ermordeten Mitglieds Jo Cox. Die meisten Abgeordneten trugen die weiße Rose Yorkshires am Revers. Viele trugen persönliche Erinnerungen und ihren Zorn über die Bluttat zusammen. Der Sprecher des Unterhauses, John Bercow, sprach von „gebrochenen Herzen, aber auch von tief empfundener Solidarität“ bei den versammelten Parlamentariern. „Wir sind uns einig in unserem Schmerz über ihren Verlust. Wir müssen uns aber auch klar darüber sein, dass ihre Ermordung ein Angriff auf unsere Demokratie, auf die Gesamtheit unserer Demokratie ist.“

Der Labour-Abgeordnete Stephen Kinnock, ein enger Freund von Cox, der mit ihr ein Büro teilte, erklärte, die Parlamentarierin sei ermordet worden „für das, was sie war, wofür sie stand“. Hätte sie das üble Anti-Flüchtlings-Plakat gekannt, das Nigel Farage am Tag ihres Todes veröffentlichte, wäre Jo Cox „empört“ gewesen, sagte Kinnock: „Sie wusste, dass Rhetorik Konsequenzen hat.“

Um Gemeinsamkeit zu demonstrieren, zogen Angehörige aller Fraktionen Schulter an Schulter vom Parlament zur St.-Margarets-Kirche in Westminster. Zur Erinnerung an Jo Cox soll im Parlament eine Statue errichtet werden. Ein Spendenaufruf für gute Zwecke, die die Abgeordnete unterstützte, hat schon fast eine Million Pfund eingetragen. Am Mittwoch – dem Tag, der ihr 42.Geburtstag gewesen wäre – finden am Trafalgar Square und an vielen anderen Orten Kundgebungen statt.