Unter europäischen Parlamentariern wächst die Empörung über das Vorgehen des türkischen Präsidenten Erdogan. Rufe nach einem Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei werden laut - während das Parlament in Ankara vor einer wegweisenden Abstimmung steht.

Istanbul/Berlin - Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat das türkische Parlament zum Widerstand gegen „autokratische Ambitionen“ von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aufgerufen. Vor der am Freitag geplanten Abstimmung zur Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten warnte Lammert die Nationalversammlung in Ankara vor einer „Selbstentmachtung“. Der CDU-Politiker sagte der „Süddeutschen Zeitung“, jetzt sei der „Selbstbehauptungswille des türkischen Parlaments gefragt“.

 

Die Nationalversammlung will am Freitag in der entscheidenden Wahlrunde über einen Vorstoß der Regierungspartei AKP abstimmen, 138 von 550 Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Der Schritt richtet sich vor allem gegen die Fraktion der pro-kurdischen HDP, die am schwersten betroffen wäre. Erdogan wirft den HDP-Abgeordneten vor, Sprachrohr der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Er hat ausdrücklich dazu aufgerufen, ihre Immunität aufzuheben.

Der Fraktionschef der europäischen Konservativen, Manfred Weber (CSU), rief die EU dazu auf, die Gespräche mit der Türkei über eine Mitgliedschaft zu beenden. Ein EU-Beitritt der Türkei sei eine „Lebenslüge“, sagte Weber der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Ankara bewege sich bei Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit auf einem negativen Weg.

Die AKP nominierte am Donnerstag den Erdogan-Gefolgsmann Binali Yildirim zum neuen Partei- und Regierungschef. Der 60-Jährige soll am Sonntag auf einem Sonderparteitag als AKP-Vorsitzender bestätigt werden und danach das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Der bisherige Verkehrsminister kündigte an, seine Regierung werde in „vollkommener Harmonie“ mit der AKP und besonders mit Erdogan zusammenarbeiten, „unserem Anführer“.

Fünf Bedingungen für Ende der Visumpflicht nicht erfüllt

Yildirim folgt auf Ahmet Davutoglu, den Erdogan-Anhänger mangelnde Loyalität vorgeworfen hatten. Sie hatten Davutoglu zudem beschuldigt, die von Erdogan angestrebte Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei nicht engagiert genug voranzutreiben. Davutoglu war auf der türkischen Seite der wichtigste Ansprechpartner von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise. Merkel reist am Sonntag zu ihrem fünften Türkei-Besuch seit Oktober nach Istanbul.

Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) sagte der „Süddeutschen Zeitung“, mit der geplanten Immunitätsaufhebung „überschreitet Erdogan den Rubikon“. Spätestens jetzt dürfe die Europäische Union keine Visumfreiheit für Türken mehr beschließen.

Für ein Ende der Visumpflicht hat die Türkei 5 von 72 Bedingungen weiterhin nicht erfüllt. Erdogan weigert sich vor allem, die Anti-Terror-Gesetze enger zu fassen. Ohne Visumfreiheit droht der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei zu kippen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zeigte sich dennoch vorsichtig optimistisch. „Die Umsetzung des Deals ist in Gefahr“, sagte er in Washington. „Aber am Ende, denke ich, haben beide Seiten das Interesse, dass dieser Deal überleben wird.“

Zweidrittelmehrheit notwendig

Lammert sagte, Erdogans Vorgehen setze „leider eine ganze Serie von Ereignissen fort, mit denen sich die Türkei immer weiter von unseren Ansprüchen an eine Demokratie entfernt“. Er rief die Opposition auf, gegen die Aufhebung der Immunität der 138 Parlamentarier zu stimmen. Die notwendige Mehrheit komme „nur dann zustande, wenn nicht nur die Abgeordneten der regierenden AKP zustimmen, sondern auch eine Mindestzahl an Abgeordneten anderer Fraktionen“.

Die einmalige Aufhebung der Immunität der 138 Abgeordneten soll über eine vorübergehende Verfassungsänderung geschehen. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit von 367 der 550 Abgeordneten notwendig. Mit einer 60-Prozent-Mehrheit (330 Stimmen) kann Erdogan eine Volksbefragung dazu einleiten, bei der eine einfache Mehrheit reicht.

Wegen einer kritischen Bemerkung zum Flüchtlingsabkommen bestellte das türkische Außenministerium nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu den EU-Botschafter Hansjörg Haber ein. Grund des Gesprächs, das bereits am Dienstag stattgefunden habe, sei eine kritische Aussage Habers vor Journalisten gewesen.