Der mögliche SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück übt sich in Attacken auf Angela Merkel. Schwarz-Gelb legt sich mit dem Bundestagspräsidenten an.

Berlin - Schon vor Beginn der Debatte verraten die Mienen der Regierungsmitglieder, was die nächsten Stunden bringen werden. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist gut gelaunt und setzt im Gespräch mit seinem Staatssekretär ein Lächeln auf. Als um neun Uhr Bundestagspräsident Norbert Lammert die 130. Sitzung eröffnet, fragen sich viele, wo die Regierungschefin bleibt. Angela Merkel betritt zwei Minuten später den Plenarsaal. Auch das gerät zu einer Geste der Gelassenheit. Zu diesem Zeitpunkt weiß die Kanzlerin aus Vorgesprächen, dass die Zahl der Abweichler in den eigenen Reihen kleiner sein wird als befürchtet.

 

Andererseits ist zu diesem Zeitpunkt noch nichts gewiss. Der Bundestagspräsident spricht vom "wichtigsten Gesetz in dieser Legislaturperiode". Als erster Redner tritt der CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder ans Rednerpult, der sich an die eigenen Leute wendet. Indirekt geht er darauf ein, was Unionsabgeordnete wie Wolfgang Bosbach beklagen: dass erheblicher Druck auf die Skeptiker ausgeübt worden sei. "Wir fühlen uns von niemandem überfahren", behauptet Kauder. Diese Meinung teilen nicht alle. Bis spät in die Nacht fanden noch Gespräche mit Abgeordneten statt, erzählt ein Beteiligter. Die Abgeordneten mussten zur "Massage" - so heißt intern das Beichtstuhlverfahren, mit dem die Koalitionsspitze versucht, die eigenen Leute auf Linie zu bringen.

Steinbrück wirft Merkel schwere Fehler vor

Im Parlament wird von diesen Vorgängen wenig sichtbar. Der Bundestag soll an diesem Tag die Ausweitung des Rettungsschirms EFSF beschließen. Dennoch spielen die Inhalte zur Eurorettung nur eine untergeordnete Rolle. Zu oft haben die Abgeordneten in den vergangenen Wochen über das Für und Wider diskutiert, als dass sie noch am Austausch der Argumente interessiert wären. Selbst die Kanzlerin verzichtet an diesem Tag darauf, ihre Leute einzuschwören. Vielleicht hängt Merkels Zurückhaltung auch damit zusammen, dass sie der SPD keine Gelegenheit bieten will, sich an der Regierungschefin abzuarbeiten.

Dies hat sich der SPD-Abgeordnete und frühere Finanzminister Peer Steinbrück vorgenommen. Damit kein Zweifel an der Geschlossenheit der SPD-Führung besteht, haben sich Steinbrück, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und SPD-Chef Sigmar Gabriel nebeneinander in die erste Reihe gesetzt. Als Steinbrück das Wort ergreift, tut die Kanzlerin sehr beschäftigt - und zeigt dem möglichen SPD-Kanzlerkandidaten die kalte Schulter.

Steinbrück, der in der Großen Koalition eng mit Merkel zusammengearbeitet hat, greift sie nun an. Er vermeidet persönliche Attacken und versucht es mit einem staatsmännischen Auftritt. In ruhigem Ton wirft der einstige Kassenwart Merkel schwere Fehler vor: "Sie haben versäumt, den Menschen rechtzeitig eine Erzählung über Europa zu liefern. Merkel sei es nicht gelungen, die historische Dimension Europas deutlich zu machen.

"In den Worten sind sie hart, in den Taten weich"

Steinbrück hält die Rettungspolitik für gescheitert. Die Strategie der Regierung, mit neuen Rettungsschirmen Zeit zu kaufen und Ländern wie Griechenland eine "Diätkur" zu verordnen, gehe nicht auf. Die "doppelte Medizin" wirke nicht, sagt der SPD-Politiker. Griechenland werde auf absehbare Zeit nicht mehr an die Kapitalmärkte zurückkehren. Außerdem trage der drastische Sparkurs keine Früchte. Die SPD trägt die Ausweitung des Rettungsschirms zwar mit, behauptet aber, dass dieser nicht reiche.

Steinbrück vermeidet alles, was zu sehr nach Parteienstreit aussieht. Als ihm aus der schwarz-gelben Koalition höhnische Zwischenrufe entgegengeschleudert werden, bleibt er zurückhaltend. "Wie nervös müssen sie sein", kommentiert der SPD-Mann die Worte aus den Koalitionsreihen. Dass Steinbrück längst auf ein Kräftemessen mit Merkel eingestellt ist, wird in der Fokussierung auf sie sichtbar. Der Kanzlerin fehle die wichtigste Qualität eines Regierungschefs: das Vertrauen. Dabei fällt Steinbrück schnell in belehrenden Ton. Nach dem chinesischen Kalender sei das Jahr der Hasen angebrochen. "Genau diesen Eindruck vermittelt die Regierung", meint er.

Das lässt der FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle nicht auf sich sitzen. Mit einigem Geschick gelingt es ihm, Widersprüche der SPD aufzuspießen. Dass Sozialdemokraten und Grüne im Europäischen Parlament jüngst die Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts abgelehnt hätten, hält Brüderle für bezeichnend. "In den Worten sind sie hart, in den Taten weich", kritisiert Brüderle. Während unter Rot-Grün Deutschland der kranke Mann Europas gewesen sei, sei das Land heute ein "Powerhaus". Von der Koalition erhält Brüderle viel Beifall.

Die Nerven liegen blank

Wie blank die Nerven liegen, wird am Ende der Debatte deutlich. Als Bundestagspräsident Lammert verkündet, dass er zwei Kritikern des Eurokurses aus der Koalition das Wort erteile, geht ein Raunen durch das schwarz-gelbe Lager. Lammert betont, die Abweichler sprächen nicht im Namen ihrer Fraktionen. Dennoch hält es der Bundestagspräsident für richtig, dass abweichende Meinungen zu Wort kommen.

Deshalb dürfen der CDU-Abgeordnete Klaus-Peter Willsch und der Liberale Frank Schäffler jeweils vier Minuten lang reden. Fraktionschef Kauder ist darüber erbost. Damit verstoße Lammert gegen die Regel, wonach die Fraktionen die Redner aufstellten, rügt die Union. Hinter verschlossenen Türen soll es lautstarken Krach mit Lammert gegeben haben.

Als Peter Altmaier, Fraktionsgeschäftsführer der Union, kurz nach zwölf per Kurzmitteilung erfährt, dass die Koalition sogar die Kanzlermehrheit erreicht hat, ist er erleichtert. Darauf gehe er nun einen trinken, sagt er.

Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten

Fraktionen Bei der Abstimmung über die Ausweitung des Eurorettungsschirmes haben nach Angaben des Bundestages am Donnerstag folgende Abgeordnete gegen die Linie der jeweiligen Fraktionsführungen gestimmt:

Union Mit Nein haben gestimmt: Wolfgang Bosbach (CDU), Thomas Dörflinger (CDU), Herbert Frankenhauser (CSU), Alexander Funk (CDU), Peter Gauweiler (CSU), Josef Göppel (CSU), Manfred Kolbe (CDU), Carsten Linnemann (CDU), Thomas Silberhorn (CSU), Klaus-Peter Willsch (CDU). Enthalten hat sich Veronika Bellmann (CDU).

FDP Mit Nein haben gestimmten: Frank Schäffler, Torsten Heiko Staffeldt, Jens Ackermann. Enthalten hat sich Sylvia Canel.

SPD Bei der SPD votierte Wolfgang Gunkel als einziger Abgeordneter mit Nein. Ottmar Schreiner enthielt sich. Drei Abgeordnete nahmen nicht an der Sitzung teil.

Grüne Bei den Grünen gab es eine Neinstimme, nämlich die von Hans-Christian Ströbele. Die übrigen 67 Abgeordneten stimmten mit Ja.

Linke Bei der Linken stimmten wie angekündigt alle 70 anwesenden Abgeordneten mit Nein. Sechs Abgeordnete nahmen an der Sitzung nicht teil.