Die Sängerin Adele galt stets als die gute Schwester der bösen Amy Winehouse. Doch das 23-jährige Soulwunder entpuppt sich als schnoddrige und fluchende Diva.
London - Wie merkt man, dass man ein Superstar ist? Wenn man vor den Augen der Welt den Mittelfinger in die Kamera streckt und sich anschließend der Veranstalter bei einem entschuldigt. So geschehen vergangenen Februar bei der Verleihung der Brit Awards. Die mit zwei Preisen bedachte Sängerin Adele wurde bei ihrer – dem Veranstalter offenbar zu lange dauernden – Dankesrede unterbrochen, woraufhin sie ihrer Verärgerung gestischen Lauf ließ. Die Produzenten entschuldigten sich hinterher überschwänglich für die rüde Unterbrechung.
Was man bei der verstorbenen Amy Winehouse, mit der Adele oft genug verglichen wurde, für wenig überraschend gehalten hätte, lässt einen bei der jüngst mit sechs Grammys preisgekrönten Sängerin stutzen. Einen Stinkefinger hätte man von der grundanständigen, bisher skandalfreien Soul-Chanteuse nicht erwartet. Aber die Weiße mit der schwarzen Soulstimme ist eben keine Lady. Zumindest nicht so eine, für die man sie gerne gehalten hätte. Waren die Schubladen gerade noch so schön passend etikettiert: Adele, die Authentische, die den Mädchen in Beste-Freundin-Manier aus der Seele singt. Adele, der zu ehrlichen Gefühlen fähige Underdog aus Nordlondon. Adele, die gute Schwester der bösen Amy.
Plötzlich pöbelt sie öffentlich
Schon zeigt sie der Öffentlichkeit ihren Stinkefinger. Und nicht nur das. Mit dem Regen an Auszeichnungen nehmen auch die Schlagzeilen zu, die Adele in einem neuen, weniger aseptischen Licht zeigen.
Ihrem Vater wolle sie ins Gesicht spucken, falls sie ihn je wieder sehe, las man unlängst. Adele schimpfte öffentlich über ihren Erzeuger Mark Evans, der die Familie zwar früh verließ, aber nicht umhinkam, sich auch ein wenig in der allgemeinen Begeisterung für Adele zu sonnen und einem Boulevardblatt allzu Privates über seine Tochter und deren Mutter zu berichten.
Etwas wunderlich scheint Adele ebenfalls (geworden) zu sein. Der „Sun“ erzählte sie vor Kurzem, dass es in ihrer neuen 8,4 Millionen Euro teuren Villa spuken würde. Nachdem sie nachts Dinge gehört habe, die sie im Bett aufspringen ließen, wolle sie keine Nacht mehr ohne Begleitung in dem Haus verbringen.
Mit steigendem Ruhm verschiebt sich der Fokus des öffentlichen Interesses. Die Bewunderung ihres musikalischen Talents steht nicht mehr an erster Stelle, jetzt ist die Person Adele dran. Gewöhnliche, spontan menschliche Reaktionen erscheinen im Zwielicht der Boulevardpresse oft besonders gallig. Und gerne vergisst man dabei, dass Adele Laurie Blue Atkins, wie sie mit vollem Namen heißt, erst 23 Jahre alt ist.
Der Biograf verteidigt sie
Schaut man sich die junge Frau aus der Ferne ein wenig genauer an, kommt man zu dem Schluss, dass sie weder das eine – die anständige Lady –, noch das andere – ein abgehobener Superstar – ist. Demnächst erscheint die erste deutsche Übersetzung einer Biografie über Adele.
Der Autor Chas Newkey-Burden zeichnet in „Adele – Die Biografie“ ihren Weg zum Erfolg vom Kleinkind bis zur Erwachsenen nach. Er zitiert sie selbst, nahestehende Familienmitglieder, Freunde, musikalische Wegbegleiter und Journalisten. Die Lektüre bleibt – trotz Einblicken in die Atkins-Familienbande und vermeintlich offenherziger Bekenntnisse der Sängerin – meist an der Oberfläche. So erfährt man zum Beispiel so interessante Dinge wie die Tatsache, dass Adele ein Fan der Fußballmannschaft ihres Heimstadtteils ist, der Tottenham Hotspurs. Zitat: „Ich bin ein echter Spurs-Fan.“
Der Grundton der Biografie ist uneingeschränkt wohlwollend. Man muss Newkey-Burden das nicht vorwerfen, allerdings entsteht der Eindruck, dass sein Idol bei ihm Beschützerinstinkte geweckt hat. Als wolle der Autor Adele schon mal prophylaktisch gegen alles Negative, was man vielleicht über sie sagen könnte, verteidigen.
Im Kapitel „Die vielen Seiten des Ruhms“ schreibt er: „Adele kann keine fünf Sätze sagen, ohne witzig zu sein oder zu provozieren. Ihre Ansichten, egal, ob es nun um Ruhm oder ihr Liebesleben geht, sind immer unterhaltsam. Ihre Offenheit ist legendär.“ Schaut man sich Videos von Interviews mit Adele an – auch solche, in denen sie auf die Schippe genommen wird –, beobachtet man tatsächlich eine erfrischend direkte, gerne lauthals auflachende Frau, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt.
Ein Kumpeltyp, der sanfte Lieder singt
Mit schnodderigem Cockney-Akzent und viel Selbstironie macht sie beinahe aus jedem zweiten Satz einen Witz. Sie selbst sagt über sich: „Ich bin sarkastisch und vorlaut.“ Dass sie zu viel raucht, gerne Rotwein trinkt und flucht, erzählt sie auch jedem, der es gar nicht unbedingt wissen will. Ihre rohe, kumpelhafte Art in der Öffentlichkeit steht im krassen Gegensatz zu ihren Liedtexten, in denen sie die Tiefen einer verletzten Frauenseele auslotet und die Melancholie nur so aus ihr herausströmt. Ein Schutzschild, um in dem ebenfalls rohen, unberechenbaren Business zu überleben?
Allein die Grobschlächtigkeit, mit der sich die Medien auf die Tatsache stürzten, dass Adele – im Gegensatz zu den meisten ihrer weiblichen Sangeskolleginnen – einige Pfunde mehr auf den Rippen hat, muss man erst mal schlucken können. Schlagzeilen wie „Unter dem Kummerspeck lodert das Feuer“ kontert sie tapfer mit Sprüchen wie: „Solange mein Gewicht weder meine Gesundheit noch mein Sexualleben beeinträchtigt, habe ich damit kein Problem.“
Und falls sie mal ein Problem mit den unverschämten Leuten bekommen sollte, die ständig ihre Figur kommentieren, hat sie ja immer noch ihren Stinkefinger.