Thomas und Caterina Schumann wollten ein Kind aus der Dritten Welt großziehen. Dafür zogen sie sogar für ein halbes Jahr nach Kenia, um dort ein Waisenkind kennenzulernen. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie.

Stuttgart - Neulich waren sie mit den Kindern beim Krippenspiel. Lucy saß gebannt neben ihrem Vater, sie konnte den Blick nicht von der Heiligen Jungfrau Maria lösen. Die Darstellerin sah ganz anders aus als die Frau, die ihr der Papa in der Bibel gezeigt hatte. Ihre Haut war schwarz. Der Dreijährigen war das gleich aufgefallen. Als ob ihr jemand einen Spiegel vorgehalten hätte. Aufgeregt zupfte sie ihren Vater am Ärmel. „Guck mal, die sieht ja aus wie ich!“ Lucy hat einen deutschen Pass. Sie stammt aber aus Kenia. Ihr Vater Thomas Schumann hat ihre Geschichte als Roman veröffentlicht. Er beschreibt einen langen, schweren Weg, bis Lucy ihren Platz in der Familie einnehmen durfte.

 

Lucy ist sieben Monate alt, als die Schumanns, er evangelischer Pastor, sie Therapeutin für Kinder und Jugendliche, ihr zum ersten Mal in einem Kinderheim in der Nähe von Nairobi begegnen. Eine deutsche Entwicklungshelferin hat das Heim 1997 für ausgesetzte Säuglinge und Kinder von inhaftierten Müttern mit Spenden eingerichtet. Es ist ein trutziges Backsteingebäude mit Kettcars vor der Tür. Es heißt „The Nest“. Die Betreuerinnen haben Lucy für diesen Tag herausgeputzt. Sie haben ihr die Haare zu Zöpfen geflochten und ihr ein Jeanskleid angezogen. Sie sitzt auf dem Schoß einer Betreuerin und schaut die Schumanns mit großen Augen an. Lucy greift nach Mary, der schwarzen Handpuppe, die ihr Schumanns mitgebracht haben. Sie genießt die ungeteilte Aufmerksamkeit.

In Kenia ist jeder 38. Bewohner mit HIV infiziert

Es ist der 8. März 2010, das deutsche Paar hat sich mit dem Taxi durch den dichten Verkehr von Nairobi gekämpft. Es ist ihr zweiter Tag in Afrika. Kenia gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Der Durchschnittsbürger muss von zwei US-Dollar am Tag leben – und das, obwohl Mieten in der Metropole Nairobi genauso viel kosten wie in Deutschland. Es fehlt an Verhütungsmitteln. Das HI-Virus breitet sich immer schneller aus. In Kenia ist jeder 38. Bewohner damit infiziert.

Es waren Berichte über das Elend von Aidswaisen, die die Schumanns bewogen hatten, ein Kind aus der Dritten Welt zu adoptieren. Sie waren 28 und 32 Jahre alt. Natürlich wollten sie eigene Kinder. Doch das hatte noch Zeit, dachten sie. Warum sollten sie nicht zuerst ein Waisenkind adoptieren? So kamen sie auf Afrika.

Eine Adoption ähnelt einer Schwangerschaft

Kinder, überall Kinder. Das ist ihr erster Eindruck auf der Fahrt ins Kinderheim. Sie sehen, wie die Kleinen sich Essensreste aus dem Müll fischen, wie sie Obst verkaufen – und wenn es sein musste, auch ihren eigenen Körper. Thomas Schumann sagt, dagegen sei ihm das Kinderheim wie eine Oase vorgekommen. Er ringt nach Worten, wenn er erzählt, welche Gefühle ihn beim Anblick seines ersten Kindes überwältigten: „Liebe, Erschöpfung, eine emotionale Unsicherheit, Stolz, Freude.“

Er sitzt im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses im bayrischen Ebersdorf, Spielzeug auf dem Boden, Grün vor der Tür. Ein jugendlich gebliebener Enddreißiger, widerspenstige Locken ranken sich um ein offenes Gesicht. Auf den rechten Oberarm hat er sich das Kreuz tätowieren lassen. Es ist mehr als nur ein Symbol. Es soll zeigen: Ich lebe, was ich glaube.

Thomas Schumann sagt, so eine Adoption sei wie eine Schwangerschaft, sie dauere bloß länger. Noch kennt man das kleine Wesen nicht, und doch fühle man sich ihm schon nah. Schließlich sei es die ganze Zeit da gewesen, wenn auch nur im Herzen. Im Fall der Schumanns dauert diese Schwangerschaft 17 Monate. So lange hat das Paar gebraucht, bis ihre Unterlagen beim kenianischen Adoptionskomitee anerkannt waren. Am Anfang dieser besonderen Schwangerschaft stehen Tests im Jugendamt. Die eigene Biografie, die Beziehung, sogar ihre Blutwerte müssen sie offenbaren. Sie müssen Fragen beantworten, die sich schwangere Mütter gar nicht stellen. Welche Krankheit darf ihr Kind haben? Könnten sie es auch lieb haben, wenn es einen Klumpfuß hat? Sie ahnen da schon, dass ihnen die eigentliche Herausforderung noch bevorsteht. Die staatlich anerkannte Vermittlungsstelle „Help a Child e. V.“, die Adoptiveltern für Kinder aus Krisengebieten sucht, hat sie darauf vorbereitet: „In Afrika seid ihr ganz auf euch allein gestellt.“

Die Mühlen der kenianischen Bürokratie mahlen langsam

Andere Bewerber hätte das abgeschreckt. In der Bundeszentralstelle für Auslandsadoptionen (BZAA) heißt es, die Zahl der Auslandsadoptionen sei seit 2005 um ein Drittel zurückgegangen – von 1100 auf 770 im Jahr. Dabei ist der Bedarf an Adoptiveltern unverändert hoch. Allein in Kenia werden von 400 000 Kindern, die eine Familie bräuchten, jedes Jahr nur 2000 vermittelt. Das sind 0,5 Prozent.

Die Latte hängt hoch: Paare, die ein Kind aus Kenia adoptieren wollen, müssen mindestens sechs Monate in dem Land verbringen. Eine vorbildliche Regelung, sagt Inge Elsässer, die Geschäftsführerin der Zentralstelle der Evangelischen Kirche für Auslandsadoptionen. Schließlich markiere ein Umzug in ein anderes Land einen Einschnitt im Leben der Kinder. Wie tief der Einschnitt sei, merkten die Eltern meist erst in der Pubertät. „Identitätskrisen, die jeder erlebt, bekommen eine andere Qualität. Die Frage: Wer bin ich?“

Die Schumanns haben in Kenia andere Sorgen. Zum einen trifft sie der normale Stress des Adoptionsverfahrens in der Dritten Welt doppelt. Kenia ist erst kurz zuvor der Haager Konvention über Auslandsadoptionen beigetreten. Die Mühlen der Bürokratie mahlen dementsprechend langsam. Mehrere Tage dauert es, eine Geburtsurkunde zu bekommen. Zum anderen weiß Caterina Schumann da schon, dass sie schwanger war. Lucys Bruder Jakob wird im September 2010 geboren, einen Monat nach ihrer Rückkehr.

Wer am lautesten schrie, bekam zuerst zu essen

In seinem Roman schreibt Thomas Schumann, wie die Hauptfiguren den hochschwangeren Bauch der Adoptivmutter vor den Behörden verbergen müssen. Sie fürchten, dass ein leibliches Kind Zweifel an ihrer Adoptionsbereitschaft säen könnte. Was passiert wäre, wenn ihre Schwangerschaft aufgeflogen wäre, beschreibt Inge Elsässer von der evangelischen Zentralstelle so: „Bei uns wäre das Adoptionsverfahren sofort gestoppt worden.“ Die Sozialarbeiterin kennt solche Fälle. Sie sagt, ein Kind brauche zwei Jahre, um in seiner neuen Familie anzukommen. Viele seien traumatisiert. Sie hätten einiges nachzuholen. „Leibliche Geschwister können diesen Prozess gefährden.“

Rivalitäten? Die gibt es bei Schumanns Kindern auch. Doch als Therapeutin ist Caterina Schumann für die Bedürfnisse ihrer Tochter sensibilisiert. Sie sagt, Lucy esse immer noch unwahrscheinlich gerne. Es sei die Folge ihrer Zeit im Heim. Es gab nicht genug Betreuerinnen für alle Kinder. Wer am lautesten schrie, bekam zuerst zu essen. Wenn Lucy heute hungere, dann nach Aufmerksamkeit.

Die Schumanns finden ihr Timing für das eigene Kind perfekt. Zu sehen, wie ausdauernd Jakob und Lucy miteinander spielen, das sei für sie Glück. Allein dafür habe sich alles gelohnt. Jedes ihrer Kinder habe gleich viel Platz in ihrem Herzen. Was die beiden unterscheidet, hat Caterina Schumann Lucy so erklärt: „Du hast eine Bauch-Mama und eine Herz-Mama. Und ich bin deine Herz-Mama.“

Lucy wurde als Säugling ausgesetzt

Sie haben ein Haus für die Familie gemietet. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, Lucy mit Palme und Löwe an der Tapete, Jakob mit Affe und Krokodil. Thomas Schumann hat seine Arbeitszeit um die Hälfte reduziert, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Seine Frau kann sich ihre Arbeitszeit selber einteilen. Sie sagen, die Zeit in Afrika habe sie als Paar zusammengeschweißt. Sie haben beide ihre Elternzeit in Kenia genommen, so können sie sich die Auszeit finanziell leisten, denn während des Adoptionsverfahrens gibt es auch Elterngeld. Nach einer „Anbahnungsphase“ von einer Woche dürfen sie Lucy mit zu sich nehmen. Thomas Schumann sagt, er sei angestarrt worden wie ein Alien, als er seine Tochter im Kinderwagen über unbefestigte Fußwege gefahren hat – viele Kenianer tragen ihre Babys im Tuch.

Sie haben sich ein Haus in einem Stadtteil Nairobis gemietet, wo die Miete noch moderat ist – 600 Euro im Monat. Dafür müssen sie erdulden, dass der deutsche Vermieter einmal auf Safari-Urlaub kommt und tageweise einzieht – und mit ihm auch Prostituierte. Eine Sozialarbeiterin kommt regelmäßig vorbei, um nach Lucy zu sehen. Heute schmunzelt Caterina Schumann, wenn sie erzählt, wie dabei Kulturen aufeinanderprallten. „Wichtig war zum Beispiel, dass der Kühlschrank jedes Mal gefüllt war.“ Sie wissen nicht, wer Lucys Eltern sind. Das Mädchen wurde als Säugling ausgesetzt. Ein Kind, das gerne singt und tanzt, am liebsten zu kenianischer Musik. Ihre Lebensfreude steckt an.

„Wie viel hat die denn gekostet?“

Diese Eigenschaft hat Lucy in der bayrischen Provinz Türen geöffnet. Thomas Schumann sagt, nur einmal sei die Familie auf die Hautfarbe ihrer Tochter angesprochen worden. Da habe eine alte Dame beim Einkaufen gefragt: „Wie viel hat die denn gekostet?“ Früher oder später wird Lucy solche Situationen allein bestehen müssen. Ihr Vater sagt, sie könnten nur versuchen, ihr ein gesundes Selbstbewusstsein zu vermitteln. Leicht wird das wohl nicht. Er sagt, er spüre die Blicke der anderen im Nacken. Als Eltern mit einem schwarzen und einem weißen Kind seien sie eben Exoten.

Nicht mehr lange, dann bekommen Lucy und Jakob einen Bruder: Mose, fünf Monate alt, aus Haiti. Im August 2012 haben sie ihn das erste Mal besucht. Caterina Schumann sagt, Lucy könne es kaum erwarten. Wie sie gedrängelt habe, um Jakob zum ersten Mal auf den Arm zu nehmen, habe sie gerührt. Ihre Worte hat sie noch im Ohr: „Jetzt gib ihn mir doch auch mal.“