Ein Jahr nach dem Amtsantritt von Präsident Mursi planen Millionen von jungen Aktivisten Protestaktionen. Von der anfänglichen Euphorie im Land ist nichts geblieben.
Kairo - Sein großer Jubeltag scheint Lichtjahre her. Die ganze Nation hing am Fernseher, als Mohammed Mursi auf der Rednertribüne mit beiden Händen sein Jackett aufriss und der jubelnden Menge auf dem legendären Tahrir-Platz seine breite Brust unter weißem Hemd darbot. „Seht her, ich habe keine Schutzweste, die brauche ich nicht, wenn ich mit meinem Volk zusammen bin“, rief er den Zehntausenden zu. Tags darauf besiegelte der erste demokratisch gewählte Staatschef der ägyptischen Geschichte mit seiner Vereidigung das Ende der Militärregierung.
Am Sonntag, 30. Juni, ist Mohammed Mursi, Muslimbruder seit seiner Studienzeit und gelernter Brückeningenieur, ein Jahr im Amt. „Ich werde dem gesamten Volke dienen“, deklamierte der Neuling damals und schwor feierlich, er trete ein für einen zivilen Staat und plane keine „Islamisierung der staatlichen Institutionen“. Den koptischen Christen versprach er, immer ein offenes Ohr für ihre Anliegen zu haben.
Es herrschen Frustration und Ernüchterung
Ein Jahr danach ist von den hehren Absichten kaum noch etwas zu erkennen. Die postrevolutionäre Euphorie ist verdampft, in großen Teilen der Bevölkerung herrscht Frustration. Wie fremde Heerscharen stehen sich die Großlager von Islamisten und Säkularen gegenüber. Misstrauen und Verdächtigungen vergiften das Klima, während Wirtschaft und öffentliche Sicherheit dem Staatszerfall entgegenschlittern.
Am Mittwoch wurde bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis wieder mindestens ein Mensch getötet. Mehr als 200 weitere wurden bei den Schlägereien in der Hafenstadt Masura verletzt. Auslöser war, dass Oppositionelle Pro-Mursi-Demonstranten vor einer Moschee mit Müll bewarfen. Dabei hatte Mursis Regierungsstil anfangs auch bei Gegnern anerkennendes Staunen ausgelöst. Mit einem Handstreich entmachtete er per Präsidialdekret den bis dahin allgewaltigen Obersten Militärrat, schickte die Soldaten zurück in die Kasernen und Ewig-Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi in den gut dotierten Ruhestand. Beim Blockfreien-Gipfel in Teheran verblüffte der Debütant mit seiner Attacke auf das syrische Regime und die iranischen Schutzpatrone.
Doch als er wenig später auch noch die gesamte Judikative ausschalten wollte, gingen die Bürger erstmals auf die Barrikaden. Der Islamist an der Staatsspitze verschaffe sich diktatorische Vollmachten und gebärde sich wie ein neuer Pharao, schlimmer als Mubarak, wetterten die Oppositionsparteien. Im Gegenzug wies Mursi die Zweidrittelmehrheit aus Muslimbrüdern und Salafisten in der verfassunggebenden Versammlung an, die 211 Artikel in einer Nacht-und-Nebel-Aktion durchzustimmen. Am Ende stimmten zwanzig Prozent der Wahlberechtigten dem neuen postrevolutionären Grundgesetz zu, zehn Prozent waren dagegen, siebzig Prozent hielten sich fern. Mindestens ein Drittel der Bürger fühlt sich durch die Überrumpelungstaktik von der Mitgestaltung der postrevolutionären Charta ausgeschlossen.
Mursi will die Gegner besänftigen
Und so trommeln junge Aktivisten seit Wochen mit ihrer Aktion „Tamarud – Rebellion“ für ein millionenfaches Referendum per Unterschrift. 15 Millionen Mursi-Gegner sollen sich bereits registriert haben, um den Präsidenten am 30. Juni mit einer landesweiten Megademonstration zum Rücktritt zu zwingen. Selbst die höchsten religiösen Autoritäten, in den letzten Tagen vom bedrängten Staatschef intensiv umworben, gingen auf Distanz und weigerten sich demonstrativ, dem Volk die Manifestationen auszureden.
Unter dem wachsenden Druck verkündete Mursi am Mittwochabend ein Maßnahmenpaket, um seine politischen Gegner zu besänftigen. Die Minister und Gouverneure sollten „alle Beamten entlassen, die für die Krisen verantwortlich sind, unter denen die Bürger leiden müssen“, sagte er. Jeder Gouverneur solle zudem mindestens einen Berater ernennen, der jünger als 40 Jahre alt ist. Auch kündigte Mursi die Einrichtung eines nationalen Versöhnungskomitees an. Ein weiteres Komitee solle über die Kritikpunkte der Opposition an der von den Islamisten beschlossenen Verfassung sprechen. Das Innenministerium soll eine Spezialeinheit schaffen, die sich nur mit der Bekämpfung von Schlägertrupps und Saboteuren befasst. Um die Benzinkrise zu beenden, soll Tankstellenbesitzern, die subventioniertes Benzin zurückhalten oder schwarz verkaufen, die Lizenz entzogen werden.