Sie sind jung, maskiert und jederzeit zu Gewalt bereit: die Aktivisten des schwarzen Blocks am Nil. Ihr größter Feind ist die Staatsmacht.

Kairo - Als die Mörder kommen, steht Ibrahim Daoud (Name geändert) mitten auf dem Tahrir-Platz und raucht Kette. Er und sein Freund, den alle nur Christi nennen, schieben Wache vor den Zelten. Sie müssen bereit sein, falls die Männer mit den Bärten auftauchen – wie in den Nächten zuvor. Die schlitzen die Zelte mit langen Messern auf, prügeln auf die Aktivisten ein. Ibrahim und Christi hören das Auto, bevor sie es sehen. Es fährt langsam auf sie zu, die Scheiben sind heruntergekurbelt, obwohl es kühl ist in der Novembernacht. Der Wagen bremst, Ibrahim sieht ein Mündungsfeuer aufblitzen, sein Freund neben ihm fällt zu Boden. Blut färbt den Staub auf dem Tahrir-Platz dunkelrot.

 

Der Hass hat sich tief in Ibrahims Seele eingenistet. Der 19-jährige Ägypter mit den Rastalocken und den braunen Augen holt sein Handy aus der Hosentasche. Er blättert durch die Dateien, „Eminem“ steht da, „FC Barcelona“. Irgendwo dazwischen hat er die Novemberfotos gespeichert. Sie zeigen das blutüberströmte Gesicht seines Freundes, den gewaschenen Leichnam auf einer Bahre mit zwei kreisrunden Löchern, eines am Hals und eines an der Stirn. Christi wurde achtzehn Jahre alt.

Der Aktivist dokumentiert den Terror auf seinem Handy

Hunderte Bilder vom Tod hat Ibrahim Daoud seit Beginn der ägyptischen Revolution im Januar 2011 mit seinem Handy gemacht. Sie dokumentieren den Terror gegen die jungen Revolutionäre auf dem Tahrir-Platz. Ibrahim war in den vergangenen zwei Jahren auf 20 Beerdigungen. „Es wird immer schlimmer“, sagt Ibrahim, mit dem Muslimbruder Mohammed Mursi als Präsident habe die Gewalt zugenommen. Seit Sommer seien es nicht mehr nur Soldaten und Polizisten, die Jagd auf die Aktivisten machten, sondern auch die Bärtigen.

Die Antwort auf Gewalt heißt Gewalt. Ägyptens Jugend schlägt zurück, von Alexandria bis Port Said, schwarz gekleidet, mit Tüchern und Kapuzen verhüllt. Sie greifen die Polizei an, zünden die Parteizentralen der Muslimbrüder oder der Salafisten an und schlagen alles kurz und klein, was islamistisch ist. Wenn sich jetzt die Bärtigen versammeln, sind die Schwarzmaskierten oft schon da. Und auch sie haben mittlerweile Knüppel und lange Messer dabei. „Der Muslimbruder an den Galgen, der Salafist in die Hölle“, haben sie auf die Puppen gepinselt, die am Tahrir-Platz hängen. Hier wabert nicht mehr Tränengas, hier steigen immer wieder süße Marihuanawolken auf. Jungen und Mädchen turteln in aller Öffentlichkeit, als wollten sie den Anhängern der Geschlechtertrennung sagen: „Ihr könnt uns mal.“

Mit Barrikaden sichern die Jugendlichen den Tahrir-Platz

Ibrahim Daoud ist stolz auf das, was die Regierung als Anarchie verteufelt. Er selbst nennt sich einen „muslimischen Anarchisten“ und sieht darin keinen Widerspruch. Nur die Islamisten würden den wahren Islam nicht verstehen. „Mohammed und Jesus waren selbst in erster Linie Revolutionäre, die für Gerechtigkeit gekämpft haben“, sagt er. Ende November haben Daoud und seine Freunde vom schwarzen Block den Tahrir-Platz mit Barrikaden gesichert.

Die Polizei halte sich seitdem fern , sagt Ibrahim, die Islamisten seien auch nicht mehr zu sehen. Die Vergewaltigungen von Demonstrantinnen hätten aufgehört, seitdem die Schwarzmaskierten patrouillierten. „Das war unsere Idee“, sagt Ibrahim. Mit knapp zwei Dutzend Mitstreitern hätten sie angefangen, dem harter Kern aus der Zeltstadt am Tahrir. Statt „Friedlich, friedlich!“ zu rufen, während Polizei und Islamisten drauflosprügeln, sollte Gleiches mit Gleichem vergolten werden. Freiheit ist das Wort, das der 19-Jährige in jedem zweiten Satz nennt. Er sagt, dass er ohne sie nicht leben könne. Aber was er genau darunter versteht, kann er nicht definieren. Ihm gefalle der Tahrir-Platz ohne Ordnungsmacht, er wolle aufbegehren gegen die Regeln der konservativen Moral.

Über Facebook wird zu Protesten eingeladen

Über Facebook und Twitter verbreiten sich die Nachrichten von den jungen Aktivisten wie ein Lauffeuer im Land. 40 000 Ägypter hätten sich auf einer geheimen Facebookseite eingetragen, erzählt Ibrahim, darunter viele Teenager, Studenten, Arbeitslose. Längst verkaufen die Straßenhändler in der Kairoer Altstadt schwarze Wollmützen mit Augenschlitzen oder Masken mit dem grinsenden Gesicht des katholischen Fanatikers Guy Fawkes, der vor mehr als 400 Jahren das britische Parlament in die Luft sprengen wollte. Die Maske ist zum Symbol geworden für Politprotest weltweit.

Sie stammt aus dem Comic „V for Vendetta“, der auch verfilmt wurde. Ibrahim kennt den Streifen fast auswendig. „Sie können uns töten, aber nicht unsere Idee“, sagt er voller Pathos. Im Geiste sieht er schon die Ägypter – wie in der letzten Szene des Films – mit Guy-Fawkes-Masken auf die Straße rennen, eine riesige anonyme Masse, die dem Diktator nur eine einzige Möglichkeit lässt: zu kapitulieren.

Ein Molotowcocktail ist schnell gemixt. Es braucht ein paar leere Colaflaschen, einen Lappen und einen Kanister Benzin von der Tankstelle. Ibrahim füllt sie ab in seiner kleiner Wohnung im Kairoer Armenviertel Bulaq. Er steckt die Flaschen in seinen Rucksack, zusammen mit der Wollmütze und einem Halstuch, das ihn gegen Tränengas schützen soll. Der Rucksack ist knallorange. Mit seinen nach hinten gebundenen Rastalocken und den abgeschnittenen Baggyhosen fällt Ibrahim im schmutzigen Graubraun von Bulaq auf. In der U-Bahn spielt er nervös an seinem Handy herum. Ein Flashmob ist geplant vor dem Sitz der Lokalregierung in Gizeh, der Nachbarstadt Kairos. „Ich fände es gut, wenn es richtig knallen würde“, sagt Daoud und meint es ernst.

Ein Flashmob in den Straßen von Gizeh

Vor dem Regierungsgebäude in Gizeh stehen seit Monaten behelmte Sicherheitskräfte in Bereitschaft. Gepanzerte Einsatzwagen sichern das Tor zum Gelände. Sie sind ein Geschenk der italienischen Regierung an Mursi, heißt es. Auf dem Gehsteig steht eine überschaubare Gruppe Aktivisten beieinander, skandiert Parolen gegen Mursi und die Muslimbrüder. Dann tauchen immer mehr Leute auf, sie steigen wie zufällig aus Bussen oder parken ihre Motorräder am Straßenrand. Die Menge behindert den Verkehr. Immer mehr Menschen kommen zusammen. Etliche Autofahrer nicken den jungen Demonstranten zu, die Flugblätter verteilen. Viele klatschen und stimmen ein in die Gesänge gegen die Regierung. Die Wollmütze bleibt in Ibrahims Rucksack. Es gibt keinen Grund, sich zu vermummen, der Krawall bleibt aus.

Der Hass hat Ibrahim verändert, er sagt, dass er keine Angst habe, irgendwann zu sterben, darüber entscheide Allah. Er sei Teil einer großen Bewegung, viele andere fühlten wie er. Aber es ist auch einsamer um ihn geworden. Seine Freundin hat ihn verlassen, weil sie an die friedliche Revolution glaubt, weil sie Gewalt als legitimes Mittel zum Zweck grundsätzlich ablehnt. Und damit ist sie nicht alleine. Auch Ibrahim hat Freunde, die mit ihm zwar demonstrieren gehen, es aber bei Flashmobs und Aufrufen zum zivilen Ungehorsam belassen wollen. So will der friedliche Teil der Demokratiebewegung das Volk bis zu den nächsten Parlamentswahlen gegen Mohammed Mursi mobilisieren.

Der neue Ibrahim ist radikal geworden

Sie treffen sich abends zum Shisha-Rauchen und Diskutieren in einer Teestube in der Nähe vom Tahrir-Platz. Die jungen Leute können sich die Cafébesuche kaum leisten. Sie haben wenig Geld, sind Studenten ohne Aussicht auf Beschäftigung oder arbeiten schlecht bezahlt, etwa in Callcentern. Mohammed Mohsen (Name geändert) nennt seinen alten Freund Ibrahim scherzhaft Che Guevara. „Was willst du mit deiner bewaffneten Revolution? Die Kubaner sind heute genauso unfrei wie früher“, sagt er. Er halte sich lieber an den Pazifisten Mahatma Gandhi. „Indien ist eine Demokratie und alle Religionen werden dort respektiert“, sagt er. Der 22-Jährige vermisst seinen Freund Ibrahim, wie er ihn von früher kennt – beherrscht, einer der gern Mangas zeichnet, die japanischen Comics, oder mal einen Joint raucht. Der neue Ibrahim mit dem Totenkopffeuerzeug und dem Anarchistenarmband gefällt ihm gar nicht. „Manchmal mache ich mir Sorgen“, sagt Mohammed Mohsen, „Ibrahim lebt gefährlich, und ich glaube, es macht ihm Spaß.“

Die Anarchisten verbünden sich mit den Ultras

Über den Fußball haben sie sich kennengelernt, sie gehören den Ultras des Kairoer Klubs Al-Ahly an. Bei den Spielen war möglich, was junge Männer in Ägyptens konservativer Gesellschaft ansonsten vergeblich suchen: Gelegenheiten zum Feiern, zum Sich-gehen-Lassen und immer mehr auch zum Ausleben von Aggressionen. Mit der Revolution nahm die Brutalität zu, die straff organisierten Ultras lassen ihrer Wut auf Militärs und Polizei freien Lauf, suchen vermehrt den Streit. Die Gewalt gipfelte in einer tödlichen Hatz auf Fans vor gut einem Jahr: bei den Ausschreitungen im Stadion von Port Said starben 74 Menschen.

Die Ultras sind die wichtigsten Verbündeten des schwarzen Blocks im Kampf gegen die Islamisten. Sie können schnell Hunderte von Anhängern mobilisieren, und ihre Eigenschaft, die Speerspitze der Revolution zu sein, haben sie schon im Januar 2011 beim Sturz Hosni Mubaraks unter Beweis gestellt. In ihren Reihen sammelt sich ein Querschnitt der jungen männlichen Bevölkerung Ägyptens: perspektivlos und auf Konfrontationskurs mit den Machthabern. Sie sind gerne bereit, die Anarchisten zu unterstützen, und es ist schwer zu sagen, wo die Ultraszene aufhört und wo der schwarze Block beginnt.

Vor dem Regierungsgebäude in Gizeh ist die Stimmung inzwischen gekippt. Die friedlichen Aktivisten sind abgezogen, mit der Dunkelheit kamen die Ultras, da rückten die Schwarzgekleideten an. Sie blockieren die Straße, es fliegen Steine, und Ibrahim Daoud ist ganz vorne mit dabei, die Maske tief ins Gesicht gezogen. „Ich muss mich verteidigen in diesem Land der Unterdrückung“, sagt er „und wenn es sein muss, dann töte ich auch.“