Älteste Kita-Pädagogin in Stuttgart Erzieherin geht mit 83 Jahren in Rente – „Nie ein Programm abgespult“

, aktualisiert am 12.10.2025 - 12:30 Uhr
Kinder und Eltern haben die Erzieherin Lisette Siek-Wattel vor Kurzem in den Ruhestand verabschiedet. Foto: Beate Grünewald

Lisette Siek-Wattel ist viele Jahrzehnte lang der Segen im Kleinen Kindergarten in Stuttgart-Vaihingen gewesen. Ihr besonderer Blick auf die Kinder zeichnet sie aus.

Familie/Bildung/Soziales: Alexandra Kratz (atz)

Der letzte Tag im Kleinen Kindergarten in Stuttgart-Vaihingen hat Lisette Siek-Wattel noch einmal all die Facetten ihres so langen und reichen Berufslebens aufgezeigt. Die 83-Jährige wollte zum Abschied eine Geschichte spielen. Dabei lässt sie zu dem Text, den sie vorliest, die kleinen Handpüppchen tanzen. Das habe sie immer so gerne gemacht, erzählt sie. Denn auf die Weise hätten auch die Kinder mit ausländischen Wurzeln, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, was von der Geschichte, der sie sonst vielleicht nicht folgen könnten.

 

Doch die Jungen hatten dafür keine Zeit, sie wollten draußen lieber einen Fluss graben. Also ließ Lisette Siek-Wattel sie erst einmal machen. Denn genau das war der Pädagogin immer am wichtigsten: Die Kinder sollten ihre eigenen Spiele entdecken. Und wenn sie einmal in eine Sache vertieft waren, dann zog sie sich lieber als stille Beobachterin zurück und störte nicht. „Wenn man die Kinder machen lässt, dann können sie sich lange beschäftigen“, sagt sie.

 

Nun hat Lisette Siek-Wattel im Kleinen Kindergarten ihren Abschied gefeiert. Es war ein rauschendes Fest mit vielen Ehemaligen. Schließlich hatte sie Generationen von Kindern begleitet. Viele von ihnen lernten sie nun noch einmal von einer anderen Seite kennen. Denn zusammen mit ihrer Familie hatte sie eine kleine Ausstellung vorbereitet.

Bilder aus der Vergangenheit und kleine Kunstwerke

Zum Beispiel mit Bildern aus ihrer Vergangenheit. Lisette Siek-Wattel wurde in Holland geboren und wuchs auf einem kleinen Bauernhof auf. Wenn sie davon erzählt, klingt es wie eine Bullerbü-Idylle in einem Astrid-Lindgren-Buch. Ihre Ausbildung zur Erzieherin und zur Leitung machte sie in den Niederlanden. Ein schwarz-weiß Foto zeigt sie kurz nach dem Abschluss glücklich an einem kleinen Tischen sitzend. „Damit die Gäste sehen, dass ich auch mal jung war“, sagt sie und lacht dasselbe Lachen wie auf dem Bild.

Auch von Lisette Siek-Wattel geschaffene Kunstwerke waren bei dem Abschiedsfest zu sehen. Denn sie ist nicht nur Pädagogin, sondern hat auch an der Kunstakademie Stuttgart studiert. Das Kreative war ihr immer wichtig – auch in ihrer Arbeit als Erzieherin. Mit Kindern Osterhasen aus Klopapierrollen basteln? Das kam er nicht in den Sinn – „viel zu eintönig und gleichförmig“, winkt sie ab.

„Erwachsene können von Kindern viel lernen“

Stattdessen sägten die Kinder bei ihr zum Beispiel kleine Holzteilchen zurecht und bemalten sie anschließend mit bunten Farben. Das machten sie auch an einem der letzten Tage, an dem Lisette Siek-Wattel im Kindergarten war. „Und sie hatten einen solchen Spaß daran“, erzählt die 83-Jährige. Am Ende sei ihnen nicht wichtig gewesen, wer welches Teil gestaltet hatte. „Alles gehört allen“, hätten sie gemeint. „Was man als Erwachsene von Kindern nicht alles lernen kann“, sagt die 83-Jährige und schüttelt nachdenklich den Kopf.

Mit den Kindern zusammen zu sein, sei immer wie ein Zauber gewesen, sagt Lisette Siek-Wattel. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Genau aus diesem Grund habe sie ihren Beruf so lange ausüben können: Kein Tag sei wie der andere gewesen. „Ich habe nie ein Programm abgespult, sondern immer geschaut, was passiert“, sagt Lisette Siek-Wattel. In gewisser Weise habe sie sich von den Kindern an die Hand nehmen lassen und so „immer wieder etwas Neues erfahren“. Es sei wie ein Zauber gewesen.

„Kinder sollen die Welt mit allen Sinnen entdecken“

Zusammen mit den Mädchen und Jungen machte sie viele Ausflüge: ins nahe gelegene Rosental zum Picknick, ins Schwimmbad, ins Theater oder in das Labor, in dem ihr Mann arbeitete. Die Kinder sollten die Welt mit allen Sinnen entdecken, und nicht schon im Kindergarten Buchstaben und Zahlen lernen. Natürlich sei zum Beispiel Sprachförderung wichtig, aber das passiere ganz nebenbei, in dem man sich wirklich mit den Kindern beschäftige, ist Lisette Siek-Wattel überzeugt.

In den letzten Wochen vor ihrem Ruhestand arbeitete sie wieder jeden Tag fünf Stunden im Kindergarten. So viel, wie schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Doch es gab einen personellen Engpass, also sprang sie ein. „Es war kein Opfer für mich, ich habe mich gefreut“, sagt sie.

Ein Filmteam begleitete ihr beinah letztes Jahr im Kindergarten

Lisette Siek-Wattel war immer da, wenn sie gebraucht wurde. Mit 65 Jahren wollte sie in Rente gehen. Ein Filmteam um die Regisseurin Sigrid Klausmann und den Produzenten Walter Sittler begleitete ihr beinahe letztes Jahr im Kindergarten. 2009 kam der Dokumentarfilm „Lisette und ihre Kinder“ in ausgewählte Kinos und stieß in der Fachwelt auf ein überwältigendes Echo. Ein Jahr lang tourte die Erzieherin durch Deutschland, war Gast bei Podiumsdiskussionen, gab Interviews. Doch schon mit 67 Jahren war sie zurück im Kleinen Kindergarten in Vaihingen – und blieb noch einmal mehr als 15 Jahre.

Doch diesmal soll es ein Abschied für immer sein. Wichtig ist ihr, dass „es kein Loch gibt“. Ihre Kollegin sei zurück. „Sie kennt alles, und die Kinder kennen sie.“ Und auf die Frage, was sie dem Kleinen Kindergarten für die Zukunft wünsche, antwortet sie: „Stabilität, also dass das Personal nicht ständig wechselt. Es bringt Kinder ganz durcheinander, wenn ständig jemand Neues da ist.“

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