Vor allem große Städte wie Mannheim haben dem Zensus zufolge weniger Einwohner als gedacht. Im Fall der baden-württembergischen Stadt liegt das Minus bei 7,5 Prozent. Kritiker rügen: Die Stichprobe habe zu ungenauen Zahlen geführt. Nun erwägt man sogar rechtliche Schritte.

Stuttgart - Die Volkszählung und ihre Ergebnisse erhöhen vor allem bei Vertretern größerer Kommunen den Adrenalinspiegel. Mehrere Städte haben gegenüber dem Städtetag Baden-Württemberg bekundet, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, ob sie gegen die Ergebnismitteilung des Statistischen Landesamtes Klage erheben sollten. Das sagte der Dezernent des Kommunalverbandes, Norbert Brugger, gegenüber der Stuttgarter Zeitung. Noch schaue man sich die Werte an und sammle Erklärungen. Das gelte nicht nur für Städte in Baden-Württemberg. Möglicherweise werde man sich mit anderen Großkommunen in Deutschland abstimmen und vereint gegen den Zensus angehen.

 

Ende Mai hatten die Statistischen Ämter die Ergebnisse ihrer Erhebung zum Stichtag 9. Mai 2011 bekanntgegeben. Dabei war zu Tage getreten, dass es in Deutschland viel weniger Einwohner gibt, als man bis dahin gedacht hatte. Baden-Württemberg hat einen Schwund von 274 000 Bürgern zu beklagen. Betroffen davon sind vor allem größere Städte. Mannheim verliert durch den Zensus zum Beispiel 23 500 Köpfe und hat noch am Tag der Bekanntmachung den Gedanken ausgesprochen, sich mit einer Klage gegen die Zählungsergebnisse zur Wehr zu setzen. Für Mannheim bedeuten sie ein Minus von 7,5 Prozent der Einwohnerschaft. Konstanz ist relativ noch stärker betroffen mit einem Abgang von 8,2 Prozent. Auch dort wurden Gedankenspiele laut, eventuell den Rechtsweg zu beschreiten.

Bei dieser Klage würde die Art der Stichprobenziehung infrage gestellt. Der Zensus vom 9. Mai 2011 wird zwar landläufig als Volkszählung bezeichnet, war in Wirklichkeit aber gar keine. Vielmehr wurden kommunale Melderegister und Datenbanken von anderen Behörden verknüpft „und durch die Ergebnisse einer bundesweit knapp zehnprozentigen Stichprobenerhebung rechnerisch korrigiert“, wie es Lucas Jacobi vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart in einem Aufsatz zum Zensus formuliert hat.

Schon ein falsch geschätztes Zehntel habe fatale Folgen

Wie nun diese Stichprobe festgelegt worden ist, sei „extrem wichtig für das Endergebnis“, sagt Städtetagsdezernent Brugger. Ausgehend von einem Zehntel der Gesamtheit werde auf das Ganze geschlossen. Wenn dabei nur ein Prozent falsch eingeschätzt worden sei, wirke sich das am Ende mit einem Faktor bis zu zehn aus – und das zehn Jahre lang bis zur nächsten Erhebung. „Das ist nicht trivial“, sagt Brugger.

Für die Bundesebene könne die Stichprobe durchaus belastbar sein, auch für die Länderebenen. Doch die Ergebnisse sind städte- und gemeindescharf ausgedrückt worden. Hier, so das Argument der Beschwerdeführer, könne sich die Unschärfe der Stichprobe negativ auswirken. Ein Ungenauigkeitsfaktor sei zum Beispiel, wie Hochhäuser berücksichtigt wurden.

Seine Skepsis gegenüber dem Zensus hatte der Städtetag schon im März vor zwei Jahren ausgedrückt. „Die Voraussetzungen für eine Akzeptanz der 2013 aufgrund des Zensusergebnisses neu festzustellenden städtischen Einwohnerzahlen sind derzeit auf Bundesebene nicht gegeben“, hieß es seinerzeit in einem Vorstandsbeschluss des Kommunalverbandes. Sofern die Voraussetzungen nicht geschaffen würden, behalte man sich vor, den „Mitgliedern ein rechtliches Vorgehen gegen die Neufeststellung ihrer Einwohnerzahlen zu empfehlen“.

Die Kommunen müssen bis Juli Einspruch erheben

Der Bund sei sich hinsichtlich der Qualität der Stichprobe selbst nicht sicher. Denn im Zensusgesetz sei eine „Prüfung der Qualität der Stichprobenergebnisse im Hinblick auf die amtliche Einwohnerzahl“ vorgesehen. Diese Überprüfung könnte den Städten Munition bieten im Kampf gegen die Feststellung niedrigerer Einwohnerzahlen. Seinen Qualitätsbericht muss das Statistische Bundesamt erst zum 31. Dezember 2015 vorlegen. Die Kommunen müssten aber bereits im kommenden Juli Widerspruch erheben.

Deshalb erwägt der Städtetag, zunächst einmal eine Fristverlängerung zu erwirken. In Bayern haben die Kommunen drei Monate Zeit, die für sie geltenden Werte zu prüfen. In Baden-Württemberg sollen sie sich schon binnen eines Monats nach Erhalt des Feststellungsbescheides erklären. Das Statistische Landesamt hat angekündigt, „wenige Wochen“ nach der öffentlichen Bekanntgabe der Ergebnisse jeder einzelnen Gemeinde mittels einer Zustellungsurkunde einen Bescheid zukommen zu lassen, in dem die künftig geltende Einwohnerzahl festgeschrieben wird. Das wäre in diesen Tagen.

Die Datenlage relativiert das Bild von deutscher Präzision

Die Städte sind zwar vom Ausmaß der Einbußen wirklich schockiert, von der Tendenz aber nicht eigentlich überrascht. Das hat den Grund, dass man in den städtischen Melderegistern schon jetzt andere, meist niedrigere Einwohnerzahlen führt als in der Datenbank des Statistischen Landesamtes. So weist etwa die amtliche Einwohnerzahl für Konstanz am 31. Dezember 2011 rund 85 500 Köpfe aus. Laut Melderegister hatten aber nur 80 100 Menschen dort ihre Hauptwohnung, wie Lucas Jacobi ausführt. Der Zensus fand – allerdings am 9. Mai 2011 – nur 77 800 Konstanzer. Für Mannheim sind die Unterschiede noch größer: 314 900 amtliche und 303 200 gemeldeten stehen 290 100 per Zensus erhobene Einwohner gegenüber. Eine schlüssige Erklärung für diese Vielfalt haben die Statistiker nicht. Sie relativiert freilich das Bild von deutscher Präzision.