Ärzte im Kreis Esslingen warnen Wenn Angst vor Corona krank macht

Im Schulterschluss werben Klinikchefs und Ärzteschaft um das Vertrauen in sichere Krankenhäuser und Arztpraxen. Foto: Ines Rudel

Die Kliniken und niedergelassenen Ärzte im Landkreis fürchten Spätfolgen, weil viele Menschen aus Furcht vor Corona notwendige Behandlungen auf die lange Bank schieben.

Esslingen - Die gute Nachricht lautet: Corona ist für die Krankenhäuser und die Ärzteschaft im Landkreis Esslingen nur noch ein untergeordnetes Thema. „Das Virus macht uns keine Probleme mehr. Wir sind auf der sicheren Seite. Unsere Häuser sind in vollem Umfang leistungsfähig“, sagen Matthias Ziegler, der Geschäftsführer des Klinikums Esslingen, und sein für die Medius Kliniken im Landkreis zuständiger Kollege, Sebastian Krupp, wie aus einem Mund. Aber auch bei der schlechten Nachricht sind sich die beiden Klinikchefs einig: Weil die Menschen aus Angst vor der Ansteckung durch das Virus immer noch einen großen Bogen um die Krankenhäuser und Arztpraxen machen, droht dem Gesundheitssystem die Welle nach der Welle.

 

Um die Befürchtungen nicht Wahrheit werden zu lassen, gehen die Kliniken jetzt im Schulterschluss mit der Kreisärzteschaft in die Offensive. Mit Zeitungsanzeigen, großflächigen Plakaten und Kampagnen in den Sozialen Medien sollen die Menschen in der Region Esslingen für das Thema sensibilisiert werden. Plakativen Botschaften wie „Schicken Sie Ihre Gesundheit nicht in den Lockdown“ und „Lassen Sie sich testen, auch auf Herz und Nieren“ appellieren an das Verantwortungsbewusstsein aller Noch-Nicht-Patienten, rechtzeitig die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen oder sich beim Auftreten von Krankheitssymptomen unverzüglich in ärztliche Behandlung zu begeben. Die Plakate sollen in den kommenden sechs bis acht Wochen überall im Landkreis zu sehen sein. Parallel dazu sollen in den Arztpraxen Broschüren zu dem Thema ausgelegt werden.

Mit dem Herzinfarkt drei Tage auf der Terrasse

„Wir erleben gerade im Praxisalltag immer häufiger, dass Patienten nach wie vor aus Angst vor einer Infektion auch dringend notwendige medizinische Eingriffe in der Klinik scheuen und stattdessen lieber starke Einschränkungen und Nebenwirkungen durch Schmerzmittel in Kauf nehmen“, sagt Wolf-Peter Miehe, der Vorsitzende der Kreisärzteschaft Nürtingen. Als Beispiel aus seiner eigenen Praxis in Weilheim/Teck führt Miehe den Fall eines Patienten an, der mit einem laufenden Herzinfarkt drei Tage auf der Terrasse gesessen und nach Luft geschnappt habe, bevor er den Arzt aufsuchte. „Jetzt muss er mit Einschränkungen wegen einer vermeidbaren Herzinfarktnarbe weiterleben“, sagt Miehe. Eine Patientin habe ihre durch eine Hüftarthrose hervorgerufenen Schmerzen so lange mit Schmerztabletten unterdrückt, bis sie schließlich mit einem Magendurchbruch doch ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

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Die Praxisbeispiele schlagen sich auch in der Statistik der Krankenkassen nieder. So stellt die AOK deutschlandweit einen Rückgang der Krebsdiagnosen um 20 Prozent fest. Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Zahlen alarmierend: Die stationäre Behandlung von Schlaganfällen ging deutschlandweit um 19 Prozent zurück, die von Herzinfarkten gar um 31 Prozent. Nachdem im Corona-Jahr zudem hunderttausende von Vorsorgeuntersuchungen abgesagt worden waren, sehen die Fachleute schon eine Bugwelle an Nachfolgekrankheiten auf das Gesundheitssystem zurollen.

„Krebs macht keine Pause“

„Krebs und viele anderen Krankheiten machen keine Pause“, sagt Stefan Krämer, der Ärztliche Direktor und Chefarzt für diagnostische und interventionelle Radiologie und Nuklearmedizin am städtischen Klinikum Esslingen. Seiner Erfahrung zufolge dient die Furcht vor einer Ansteckung häufig auch nur als willkommene Ausrede, um sich einer möglicherweise ungünstigen Diagnose nicht stellen zu müssen. „Wir wollen mit unserer Kampagne die Menschen aufrütteln und die Corona-Ausrede aus den Köpfen bekommen“, sagt er.

Die unheilvolle Allianz zwischen vorgeschobener Corona-Furcht und der Angst vor der Wahrheit treibt auch Krämers Kollegen Bodo Klump die Sorgenfalten auf die Stirn. Gerade Männer, die ohnehin als Vorsorgemuffel gelten, nutzten die Corona-Ausrede, um sich vor einer Untersuchung zu drücken. Unisono beteuern die Mediziner, dass es nicht die Sorge um die Krankenhausfinanzen seien, die sie zu der Kampagne veranlasst hätten, sondern ausschließlich die Sorge um das Wohl der Menschen.

Mehr Angst vor Spätfolgen der Versäumnisse als vor der vierten Welle

Vierte Welle
 Die Krankenhäuser im Landkreis Esslingen sehen einer möglichen vierten Welle bei den Corona-Infektionen gelassen entgegen. „Wir können innerhalb von ein bis zwei Tagen die Kapazitäten hochfahren“, heißt es unisono aus dem Klinikum Esslingen und den landkreiseigenen Medius Kliniken. Grund für den Optimismus sind die Erfahrungen aus Großbritannien. Dort ist liegt zwar die Ansteckungsrate bei 400 Fällen pro 100 000 Einwohnern, schlägt aber der hohen Impfquote wegen kaum auf die Kliniken durch. Lediglich 2800 Patienten werden in Folge einer Corona-Infektion im ganzen Land derzeit stationär behandelt.

Kampagne
 Die Sensibilisierungskampagne im Landkreis Esslingen soll am Samstag starten. Bis Ende August wollen Kliniken und Ärzte um das Vertrauen der Menschen werben. Triebfeder ist die Sorge um die Gesundheit der Menschen, aber auch die Furcht, dass die Spätfolgen das System überlasten könnten.  

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