Auf dem Papier gibt es in Stuttgart zu viele niedergelassene Ärzte. Ein neues Gesetz soll dafür sorgen, dass in solchen Gebieten Praxen nicht mehr nachbesetzt werden. Aber gibt es überhaupt eine Überversorgung?

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Auf dem Papier gibt es in Stuttgart zu viele niedergelassene Ärzte in fast allen Disziplinen: seien es Kinderärzte, Psychotherapeuten, Internisten, Orthopäden oder Augenärzte. In all diesen Bereichen gibt es mehr Praxen als an Arztsitzen vorgesehen. Die Bundesregierung will dafür sorgen, dass in Zukunft Praxen in überversorgten Gebieten nicht mehr nachbesetzt werden. „Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass die gesetzgeberischen Vorgaben zum Abbau von Überversorgung weiterentwickelt werden“, erläutert Jasmin Maschke, eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums. Die Anreize zur Niederlassung in unterversorgten Gebieten sollten zeitgleich verbessert werden.

 

Dem Folge leistend hat das Kabinett kurz vor Weihnachten das Versorgungsstärkungsgesetz beschlossen. Während im noch gültigen Gesetz steht, dass die Zulassungsausschüsse die Nachbesetzung einer Praxis ablehnen können, wenn diese für die Versorgung nicht notwendig ist, heißt es im neuen Gesetz, dass sie dieses tun sollen. Das Gesetz muss aber noch durch den Bundestag.

Die Stuttgarter Kinder- und Jugendärzte haben schon einmal ausgerechnet, was die Neuerung für sie bedeuten würde: angesichts eines Versorgungsgrads von offiziell 135,6 Prozent müssten neuneinhalb Kinderarztpraxen in der Landeshauptstadt wegfallen. „Es wird so laufen, dass man sich um jede Praxis streitet“, sagt der Kinderarzt Thomas Jansen, der im Aufsichtsrat des sogenannten Päd-Netz-S, der Genossenschaft der fachärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen sitzt. „Dabei ist es so, dass die Bedarfsplanung mit dem echten Bedarf überhaupt nichts zu tun hat“, kritisiert Jansen. Die Zahlen, wie viele Arztsitze benötigt werden, um die Versorgung sicherzustellen, seien von Anfang der 1990er Jahre.

Doppelt so viele Vorsorgeuntersuchungen

„Jegliche Veränderungen im Bedarf wurde seitdem ignoriert“, behauptet er. Die Arbeit der Kinder- und Jugendärzte habe sich jedoch stark geändert, sodass die Anzahl der Praxen gerechtfertigt sei. So gebe es doppelt so viele Vorsorgeuntersuchungen und deutlich mehr Impfungen. Die Patienten blieben länger bei ihnen und wechselten später zum Hausarzt. Man habe mehr schwer kranke Kinder, weil die Kliniken diese früher entlassen.

Weil schon unter Dreijährige Kindertagesstätten besuchen, seien die Praxen voller, weil schlichtweg mehr Eltern Bescheinigungen benötigten, wenn ihr Kind krank ist. „Die Versorgungsrealität ist eine ganz andere als die Versorgungstheorie“, fasst Jansen zusammen, der eine Umfrage unter den Stuttgarter Kinder- und Jugendärzten vorlegt, der zufolge berichten knapp 65 Prozent, dass sie Patienten abweisen. Die eigene Patientenzahl schätzt die überwiegende Mehrheit als „genau richtig“ ein. Besorgt ist Thomas Jansen auch wegen der Altersstruktur der hiesigen Kinder- und Jugendärzte: 15 seien älter als 60, zwei älter als 65 Jahre. In absehbarer Zeit würden diese aufhören.

„Es ist wie beim Mikado“

Auch bei der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg wird behauptet, die rechnerisch festgestellte Überversorgung sei in der Realität gar nicht so vorhanden. „Wir sind froh über jeden Arzt, den wir haben“, sagt der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, Kai Sonntag. Jeder wisse um die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz beim Psychotherapeuten. In Stuttgart liege der Versorgungsgrad aber bei 135,6 Prozent.

Auch hier dürften Praxen also nicht wieder besetzt werden. Das Gesetz sorge „für erhebliche Unruhe“ unter den Ärzten. „Es ist wie beim Mikado. Der, der sich zuerst bewegt, verliert“, sagt der Sprecher.