Vor neun Monaten hat der Renninger Kinderarzt seine Praxis geschlossen. Die Suche nach einem neuen Arzt wird für viele Eltern zu einer Odyssee. Carmela Saggio erzählt von ihren Erfahrungen.

„Ich dachte mir schon, dass es nicht einfach wird, aber dass die Situation so dramatisch ist, das hätte ich nicht gedacht.“ Carmela Saggio (28) lebt mit ihrem Mann und ihrem zweijährigen Sohn Alessio in Renningen. Sie ist eine von vielen Müttern in der Umgebung, die seit der Praxisschließung des Renninger Kinderarztes Werner Plieninger im März 2022 eine wahre Odyssee auf der Suche nach einem neuen Arzt hinter sich haben. Die Praxen in der Region sind überfüllt, die Wartelisten lang. Manche Eltern haben bis heute noch keine richtige Alternative gefunden.

 

Zuständig für die Nachfolgersuche für die leere Praxis ist die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Zu einer Nachbesetzung besteht allerdings keine Verpflichtung, kein Arzt kann gezwungen werden, sich an einem bestimmten Ort niederzulassen. Die Stadt Renningen sowie eine örtliche Elterninitiative bemühten sich daher, auf anderen Wegen einen neuen Arzt in den Ort zu locken. Aktuell werden der Stadt zufolge noch Bewerbungen geprüft, ob die Praxis aber zeitnah oder überhaupt neu besetzt wird, ist offen.

52 Absagen von Praxen in der Region

„Ich war seit Alessios Geburt ziemlich genau ein Jahr bei Herrn Plieninger, bevor er zugemacht hat“, erzählt Carmela Saggio. Als sie davon erfuhr, habe sie direkt versucht, einen neuen Arzt zu finden. „Am Ende war ich einfach nur verzweifelt. Ich habe, ungelogen, bei 52 Ärzten in der Region angerufen“, erinnert sich Carmela Saggio und schüttelt den Kopf. Im engeren Radius um Renningen – von Böblingen über Ditzingen bis Wimsheim – bekam sie nur Absagen. „Ich bin daher weiter rausgegangen, bis nach Pforzheim, Calw und Stuttgart. Da bekam ich ständig die Antwort, dass ich es in der näheren Umgebung versuchen soll. Die wollten gar nicht glauben, dass die Situation hier so schlimm ist.“

Nach Monaten vergeblicher Suche traf sie den Entschluss, sich privat zu versichern. Daraufhin fand sie einen Platz bei einem Kinderarzt in Stuttgart-Ost. „Ich habe das große Glück, dass ich die Möglichkeit dazu hatte und dass mein Kind gesund ist und nicht oft zum Arzt muss“, sagt Carmela Saggio. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man ein chronisch krankes Kind hat und sich das nicht leisten kann, sich privat zu versichern oder immer so weit zu fahren.“

Denn bis nach Stuttgart-Ost, das sei schon eine Hausnummer, „vor allem mit einem kranken Kind“, beklagt sie. Im Notfall liegt die Kinderklinik in Böblingen freilich näher. Doch die Wartezeiten können je nach Art des Notfalls immens sein. „Im Sommer ist Alessio mal von der Schaukel gefallen, sein Fuß war ganz blau. Da hatten wir noch keinen Kinderarzt. Im Krankenhaus mussten wir fünf Stunden warten, bei 30 Grad.“

Wohin können sich Eltern wenden?

Dabei ist es ein großes Missverständnis, dass die Kinderklinik Böblingen grundsätzlich und bei allen Anliegen einspringt. Die Stadt Renningen hatte Bestrebungen zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) und der Kinderklinik angekündigt, dass Kinder aus Renningen dort regulär behandelt werden können, solange die Eltern noch keinen neuen Arzt gefunden haben. Ein solches Abkommen kam jedoch nie zustande. Das bedeutet: Die Kinderklinik ist nur bei Notfällen zuständig, zum Beispiel bei einer akuten Erkrankung oder Verletzung, nicht aber für Vorsorge oder gesundheitliche Beratungen.

„Es gab viele Gespräche, aber am Ende leider ohne Ergebnis“, berichtet der Renninger Bürgermeister Wolfgang Faißt auf Anfrage. Zuvor hatte die Stadt das Zustandekommen der Absprache allerdings noch bestätigt, auch Eltern wie die Renningerin Carmela Saggio waren nach einem Gespräch mit dem Bürgermeister fest davon ausgegangen. „Uns wurde das so gesagt, dass wir auf die Klinik zugehen können“, berichtet sie.

Das Krankenhaus hätte für ambulante Behandlungen, die keine Notfälle sind, eine Art Sondergenehmigung vom Zulassungsausschuss der KVBW bekommen müssen, damit die Behandlungen von der Krankenkasse übernommen werden. „Die KV tut sich mit so etwas schwer“, formuliert es Lutz Feldhahn, Chefarzt der Kinderklinik. Eine reguläre Behandlung sei daher weiterhin nur möglich, wenn es in der Umgebung keine Fachärzte für das jeweilige Anliegen gibt, zum Beispiel für Kinder mit Diabetes.

„Die Kassenärztliche Vereinigung muss neue Strukturen schaffen“

Lutz Feldhahn kennt das Problem mit dem Fachärztemangel, nicht nur bei den Kinderärzten. „Und das wird in den nächsten Jahren noch viel schlimmer werden, wenn immer mehr Ärzte in den Ruhestand gehen“, beklagt er und sieht die Kassenärztliche Vereinigung in der Pflicht. „Sie muss neue Strukturen schaffen, damit wir eine ausreichende ärztliche Versorgung bekommen.“

Besonders enttäuscht ist Carmela Saggio von der Bundespolitik. „Es gab vor einiger Zeit mal ein offenes Gespräch mit einem Bundestagsabgeordneten zu dem Thema.“ Den Namen weiß sie nicht mehr. „Am Ende lief es aber darauf hinaus: Worüber beschwert ihr euch eigentlich im Kreis Böblingen, ihr seid doch an Kinderärzten überbelegt? Bei so einer Arroganz konnte ich nur noch abschalten.“ Denn die geltenden Verteilungsschlüssel für Fachärzte hätten mit der Realität leider nichts zu tun, hier bestehe aus ihrer Sicht dringender Handlungsbedarf.

Was aber können Eltern tun, die partout keinen Kinderarzt finden? Bei individuellen Anliegen können sie beispielsweise das Telemedizinangebot der KVBW in Anspruch nehmen, das unter der Nummer 116 117 wochentags erreichbar ist, erklärt Kai Sonntag, Sprecher der KVBW. „Klar ist, dass damit keine Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen abgedeckt werden können.“ In solchen Fällen könnten sich Eltern an die Terminservicestelle der KVBW, ebenfalls unter der 116 117, wenden. „Dort werden auch Kinderarzttermine vermittelt.“

Kein Anspruch auf einen festen Kinderarzt

Eine ideale Lösung stelle das selbstverständlich nicht dar. Zumal die Termine zum Teil sehr weit außerhalb liegen können. „Aber es gibt dann wenigstens eine Behandlung“, sagt Sonntag. „Wir haben leider aktuell keine andere Möglichkeit.“ Einen Anspruch auf einen Termin bei einem bestimmten Kinderarzt oder überhaupt auf einen festen Platz gebe es nicht.

Aus der Sicht von Carmela Saggio eine untragbare Situation. Eltern sollte ein Kinderarztplatz zustehen müssen, findet sie. „Wenn jemand seinen Kinderarzt verliert, müsste ihm ein neuer Platz vermittelt werden. Es steht jedem frei, das anzunehmen oder nicht, aber man sollte wenigstens die Möglichkeit haben.“ Als Erwachsener bringe man ganz andere Voraussetzungen mit, um mit Veränderungen, ständigen Arztwechseln oder weiten Anfahrtswegen umzugehen. „Wenn mein Hausarzt weggeht, ist das eine Sache. Aber hier geht es um kleine Kinder. Die können sich nicht mitteilen, sie sind auf uns angewiesen.“