Volle Wartezimmer, weinende Kinder, verzweifelte Eltern, frustrierte Praxismitarbeiterinnen und gestresste Ärzte. So muss man sich wohl nicht erst seit Beginn der Coronapandemie den Alltag in vielen Kinderarztpraxen vorstellen. Auch bei Michael Sigel, Kinderarzt in der Ziegelstraße in Sindelfingen, gibt es solche Tage immer öfter. Er, wie auch viele seiner Kollegen im Kreis, sind schlicht überlaufen. Der Grund: zu viele Patienten auf zu wenig Ärzte.
Und so läuft in der Praxis von Michael Sigel täglich die gleiche Leier ab: Weil der Mediziner an seine Kapazitätsgrenzen gekommen ist und keine neuen Patienten aufnehmen kann, bleibt seinen Angestellten keine andere Wahl als die um Untersuchungstermine bittenden Eltern am Telefon abzuweisen. „Mittlerweile müssen wir jeden Tag Eltern am Telefon mitteilen, dass wir einen Aufnahmestopp haben. Für Familien, die noch keine feste Anbindung haben, bedeutet das, dass sie weitersuchen müssen – mit nicht abzuschätzenden Folgen. Man kann sich vorstellen, dass das große Probleme schafft“, schlägt Sigel nun Alarm.
Praxisschließung in Renningen hat Situation verschärft
So gerne der seit 1989 ausgebildete Kinderarzt den Kindern auch helfen wollen würde, deren Eltern per Telefon um einen Termin bitten, so sehr sind ihm die Hände gebunden. Das Problem liegt nämlich tiefer, wie Sigel gegenüber unserer Zeitung erläutert: „Seitdem im März 2022 in Renningen die Kinderarztpraxis von Werner Plieninger schloss, verschärfte sich die Versorgungssituation nochmals spürbar. Viele Patienten standen praktisch auf der Straße. Viele haben es auch bei uns probiert. Wir befinden uns aber am Limit. Mehr als die elf Stunden, die ich pro Tag arbeite, geht nicht. Es ist aber auch klar, dass wir kranke Kinder, die in unserer Praxis stehen, nicht ablehnen.“
Mit Glück konnten Eltern ihre Kinder noch bei Kollegen in Weil der Stadt, Sindelfingen oder Böblingen unterbringen. Dort und in anderen Kommunen sind Praxen zu finden, erfahrungsgemäß seien aber auch diese bereits an ihre Grenzen gekommen. Die geschlossene Renninger Praxis jedenfalls konnte bisher nicht wieder besetzt werden. „Überall gestaltet es sich schwierig, kinderärztliche Kassensitze zu besetzen. Die Bereitschaft, in eine Praxis einzusteigen oder eine neue zu eröffnen, fehlt. Darunter leiden vor allem die Familien“, ist Sigel überzeugt. Außerdem hätten höhere Geburtenraten und Zuwanderung die Patientenanzahl erhöht. Durch Corona oder das RS-Virus und einem höheren Behandlungsbedarf allgemein hat es größere Anstürme gegeben. Es ist also nicht nur das abnehmende Angebot, sondern auch eine höhere Nachfrage, die die Situation verschärft.
Drei pädiatrische Kassensitze sind aktuell im Landkreis unbesetzt
Auf einer Skala, auf der Heidelberg mit einem Wert von 148,6 landesweit Erster ist, gibt die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) für den Kreis Böblingen einen kinderärztlichen Versorgungsgrad von 99,8 Prozent an. Im Vergleich mit Kreisen wie Esslingen (113,3) oder Ludwigsburg (113,1) belegt Böblingen in der Bezirksdirektion Stuttgart damit zwar den letzten Rang, in der Theorie spricht die Berechnung aber noch immer nicht von Unterversorgung.
Angesprochen auf die vielerorts geäußerte Kritik von niedergelassenen Kinderärzten und suchenden Eltern erklärt die Pressestelle der KVBW auf Anfrage: „Nach allen Rückmeldungen, die wir erhalten, ist die pädiatrische Versorgungssituation im Landkreis angespannt.“ Aktuell beträgt die Zahl der freien Kassensitze im Kreis drei. Das bedeutet, dass sich insgesamt drei Kinderärzte, allgemein- oder fachmedizinisch, im Kreis niederlassen könnten. Wo, bleibt den Medizinern überlassen. In einem Fall von vor sieben Jahren, als ein Maichinger Kinderarzt in Ruhestand ging, folgte ihm ein Kinderkardiologe nach, der dann nach Böblingen ging.
Michael Sigel, selbst 62 Jahre alt, befürchtet angesichts des Trends der letzten Jahre jedenfalls eine Verschlechterung der Versorgungssituation. „Wir haben im Kreis neun Ärztekollegen auf achteinhalb Kassensitzen, die 62 Jahre oder älter sind. Bis 2030 werden diese alle das Alter von 68 Jahren erreicht und den Ruhestand anvisiert oder gar angetreten haben. Da wir schon jetzt keine Nachfolger finden, mache ich mir große Sorgen“, betont Sigel, dessen Praxis seit 1997 besteht. Warum aber ist das Interesse jüngerer Fachkollegen an Praxisbeteiligungen so gering? „Viele jüngere Kollegen präferieren ein Angestelltenverhältnis mit definierten Arbeitszeiten, mit Teilzeitangeboten. Außerdem müssen sich in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) angestellte Ärzte nicht um Betriebswirtschaftliches kümmern. Das schreckt sicher viele ab“, berichtet der Arzt.
Sind Medizinische Versorgungszentren unter kommunaler Hoheit die Lösung?
Weil die Vorstellung, eigenverantwortlich eine Arztpraxis zu führen, bei jüngeren Medizinern offenbar wenig attraktiv ist, haben Sigel und Kollegen bei der Stadt Sindelfingen vorgefühlt. Die Idee: Ein MVZ in kommunaler Trägerschaft. Das könnte ein Anreiz für jüngere Ärzte sein, denn innerhalb dieses Modells sind Aspekte wie ein Angestelltenverhältnis und Teilzeitregelungen möglich. „Viele MVZ laufen gut und locken sogar Investoren an. Deshalb hatten wir die Stadtverwaltung im März auf unsere Idee angesprochen“, erzählt Michael Sigel und führt aus: „Es waren natürlich zunächst keine Begeisterungsstürme zu vernehmen. Die Problemlage ist kompliziert. Die Stadt hat die Sorgen zur Kenntnis genommen.“
Während die Stadtverwaltung auf Anfrage auf die Zuständigkeit der Kassenärztlichen Vereinigung in Stuttgart verweist, sieht sich die KVBW auch nur bedingt in der Position, das Ärzteangebot im Kreis zu verbessern. „Wenn es die ‚eine Schraube’ geben würde, an der wir nur drehen müssten, um das Problem zu lösen, hätten wir das bereits gemacht. Daher sehen wir auch keine kurzfristig möglichen Lösungen. Unser Problem ist, dass es zu wenige Kinderärzte gibt“, erklärt Pressesprecher Kai Sonntag.
Um dennoch nicht tatenlos zuschauen zu müssen, habe die KVBW ein Telemedizinangebot („docdirekt“) mit Online-Sprechstunden für Versicherte etabliert. „Das löst das Problem nicht, kann aber helfen. Wir hoffen auch, dass wir durch andere digitale Anwendungen die Praxen entlasten und damit mehr Kapazitäten schaffen können“, so Sonntag weiter. Michael Sigel wird dies alles nicht beruhigen: „Wenn wie zu erwarten die Kollegen mit Anfang, Mitte 60 in den Ruhestand treten werden, befürchte ich einen richtigen Dominoeffekt. Dann sind wir noch viel mehr auf Kante genäht.“