Der Grünen-Ministerpräsident wird parteiübergreifend gescholten für seinen Vorschlag, Pandemien frühzeitig mit harten Maßnahmen zu bekämpfen. Nur die Grünen halten sich mit Kommentaren zurück.

Berlin/Stuttgart - Ministerpräsident Winfried Kretschmann steht mit seinem Vorschlag, im Kampf gegen Pandemien stark in Bürgerfreiheiten einzugreifen, im Kreuzfeuer der Kritik: Politiker von links bis rechts lehnten die Überlegungen ab, die der Grünen-Regierungschef im Interview mit unserer Zeitung angestellt hatte. Sozialdemokraten und Liberale forderten die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock auf, sich von Kretschmann zu distanzieren. FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke sagte: „Kretschmann entwickelt sich immer mehr zum Autokraten.“ Die SPD im Südwesten erklärte, Kretschmann sei ein „entrückter Sonnenkönig“.

 

Kretschmann hatte in dem Interview vorgeschlagen, harte Eingriffe in die Bürgerfreiheiten zu ermöglichen, um Pandemien schneller in den Griff zu bekommen. „Meine These lautet: Wenn wir frühzeitige Maßnahmen gegen die Pandemie ergreifen können, die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind, dann könnten wir eine Pandemie schnell in die Knie zwingen“, erklärte der 73-Jährige. Möglicherweise müsse man dafür das Grundgesetz ändern.

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Baerbock soll sich äußern

SPD-Bundestagsfraktionsvize Dirk Wiese sagte: „Dass ein Grüner von einem permanenten Notstand der Exekutive zu träumen scheint, kritisiere ich scharf.“ Baerbock müsse das klarstellen.

FDP-Fraktionsvize Michael Theurer sagte: „Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock muss diesen Versuchungen des Autoritären in der eigenen Partei entschieden und öffentlich entgegentreten.“ Die Grünen seien eben keine „Bürgerrechtspartei“, das zeigten Kretschmanns Äußerungen. „Deutschland ist kein autoritärer Staat, der die Freiheitsrechte nach Belieben einschränken kann“, sagte Theuer, der auch FDP-Landeschef in Baden-Württemberg ist.

Wie reagiert die Südwest-CDU?

CDU-Präsidiumsmitglied Norbert Röttgen griff Kretschmann auf Twitter an. Er halte die Aussage des Ministerpräsident für „großen Quatsch“, schrieb er. „Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört zum unveränderlichen Kern des Rechtsstaats.“

Auch aus der Südwest-CDU, die mit den Grünen regiert, kam Kritik. „Die Aussagen von Winfried Kretschmann sind ein Skandal“, erklärte Simon Gollasch für die Junge Union im Land. „Unverhältnismäßige Maßnahmen zu fordern, ist evident verfassungswidrig.“

Der Landeschef des CDU-Sozialflügels, Christian Bäumler, sagte: „Durch solche Aussagen wird das Vertrauen in die Pandemiepolitik kaputt gemacht.“

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Aufforderung zum Rücktritt

Die AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel, forderte Kretschmann zum Rücktritt auf. „Ein Ministerpräsident in hoher Verantwortung, der unsere Demokratie abschaffen will, ist für dieses Amt völlig ungeeignet.“ Kretschmanns Vorschläge seien „zutiefst undemokratisch, verfassungswidrig und greifen in die Freiheiten der Bürger ein“. Jemand, der dieses demokratische Verständnis habe, sei für das Amt eines Ministerpräsidenten völlig ungeeignet. Kretschmann solle sich fragen, ob er weiterhin Ministerpräsident bleiben wolle, wenn er dieses Weltbild habe.

FDP-Fraktionschef Christian Lindner sagte: „Staatliches Handeln muss immer verhältnismäßig bleiben, zwischen den Mitteln des Staates und den Bürgerrechten muss es ein angemessenes Verhältnis geben.“ Wenn ein Inhaber eines höchsten Staatsamts dies in Frage stelle, sei das eine falsche Konsequenz aus der Pandemie. Lindner: „Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient dem Schutz der Freiheit und ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte, die nicht leichtfertig geopfert werden darf.“

Der SPD-Landes- und Landtagsfraktionschef Andreas Stoch empfahl Kretschmann, sich eine „Lernbrücke“ in Verfassungsrecht zu sichern: „In unserer Demokratie kann und muss jede politische Entscheidung von Gerichten überprüft werden können. Das ist kein Konstruktionsfehler, sondern eine elementare Errungenschaft, eine der wichtigsten verfassungsrechtlichen Grundlagen unseres Landes.“