Die zwölf Millionen Jahre alten Knochen des Affenmenschen Udo werfen ein ganz neues Bild auf die Entstehung des Menschen. Die Tübinger Paläontologin Madelaine Böhme hat in Stuttgart die Geschichte ihres sensationellen Funds erzählt.

Stuttgart - Der Medienrummel war riesig, als im vergangenen November Madelaine Böhme von der Uni Tübingen und ihr Team ihren bisher wichtigsten Fund aus einer Tongrube bei Kempten vorstellten: die Knochen eines Wesens, das Merkmale sowohl des Menschen als auch der Menschenaffen aufwies und das vor 11,7 Millionen Jahre gelebt hatte. Besonders bemerkenswert: Danuvius guggenmosi, wie die Wissenschaftler den urzeitlichen Menschenaffen getauft hatten, bewegte sich offensichtlich bereits im aufrechten Gang. Und das lange vor all jenen Ururahnen des Menschen, die bisher in Afrika gefunden wurden. Was unweigerlich zu der Frage führte: Haben sich die Menschen also nicht in Afrika, sondern in Europa entwickelt?

 

Eine spannende Frage, die an den Grundfesten der bisherigen, allgemein anerkannten Erkenntnisse der Urzeitforscher rührt. Und die nach wie vor so viele Menschen interessiert, dass die Stuttgarter Szenekneipe Rosenau bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Dort berichtet Madelaine Böhme im Rahmen der Veranstaltungsreihe Science Pub über den „Menschenaffen Udo“. So haben die Forscherin und ihr Team das bekannteste Exemplar von Danuvius guggenmosi getauft – in Anlehnung an den Rockmusiker Udo Lindenberg. Der feierte nämlich am 17. Mai 2016 seinen 70. Geburtstag, weshalb seine Lieder im Radio allgegenwärtig waren. Und genau dieser Tag spielte auch im Leben der Madelaine Böhme eine überragende Rolle.

Seit 2011 hatte die studierte Geologin in der im Landkreis Ostallgäu gelegenen Tongrube Hammerschmiede mit ihrem Team Ausgrabungen vorgenommen. 2015 fand dann ein Doktorand den Oberkiefer eines Menschenaffen – „ein totaler Zufall“, wie sich Madelaine Böhme erinnert. Geschützt war die Ausgrabungsstelle allerdings damals noch nicht. Und so wurde sozusagen Udos Grab im Mai 2016 zu einem großen Teil abgebaggert, um den dort vorkommenden Ton kommerziell zu nutzen. „85 Prozent von Udo gingen damals verloren“, erinnert sich die Wissenschaftlerin.

Folgenschwerer Hieb mit der Hacke

Am 17. Mai 2016 ist sie dann von Tübingen ins Allgäu gefahren, um in einer Blitzaktion wenigstens noch 25 Tonnen Material und die darin lagernden Knochen zu retten. „Im Frust habe ich dann die Hacke in den Boden gehauen“, sagt sie. Ein Riesenglück, führte dies doch zur Entdeckung eines Unterkiefers. „Und der passte genau zum Oberkiefer. Das war wirklich etwas ganz Besonderes – und so haben wir dann weitergegraben und noch mehr Knochen gefunden.“

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Bis heute haben die Forscher 37 Knochen von vier Danuvius-Skeletten identifiziert: Neben dem etwa 31 Kilogramm schweren Männchen Udo sind dies ein größeres und ein kleineres Weibchen mit einem Gewicht von 19 beziehungsweise 17 Kilogramm sowie ein Jungtier. Welche vielfältigen und beeindruckenden Informationen die Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen heute aus diesen Knochen herauslesen können, erläutert Madelaine Böhme ausführlich ihren Zuhörern.

Als dabei die Präsentationstechnik vorübergehend ausfällt, kommt die Forscherin erst richtig in Fahrt: Unter dem Beifall der Zuschauer demonstriert sie eindrucksvoll mit Armen und Beinen, Händen und Füßen, typischen Körperhaltungen sowie diversen Knochen, wie sich Menschen und Affen unterschiedlich fortbewegen. Und wie Udo in dieses Spektrum passt.

Aufschlussreiche Knochen

Die typisch S-förmig gebogene Wirbelsäule, die Gestalt der Wirbelkörper und die Winkel, in denen ihre Dornfortsätze abstehen, die Form und Anzahl der Lendenwirbel, die Gestalt der Oberschenkel, die Form der Gelenkflächen im Knie und am Sprunggelenk, die Gestalt der Füße und vor allem des großen Zehs: Es gibt eine ganze Reihe von Hinweisen, die nur den Schluss zulassen, dass sich Udo aufrecht fortbewegt haben muss – ein Merkmal, das bis jetzt als prägend für die frühen Menschen gilt.

Gleichzeitig aber weisen manche Merkmale klar darauf hin, dass Udo ein Menschenaffe war. Weil glücklicherweise eine Elle und ein Schienbein komplett erhalten sind, weiß man zum Beispiel, dass die Arme etwa 17 Prozent länger als die Beine waren – so wie heute bei den Bonobos.

Die Erkenntnisse über Udos Leben vor knapp zwölf Millionen Jahren werfen viele Fragen über die Vorfahren der Menschen wie auch der Menschenaffen auf. Sie lassen aber auch die Vermutung zu, dass vor sieben bis 13 Millionen Jahren in Europa die Vorfahren der Schimpansen und Gorillas wie auch der Menschen im selben Ökosystem lebten und sich dort wohl auch miteinander vermischt haben.

„Das ist ein spannendes, aber auch sehr komplexes Forschungsfeld. Es gibt kaum ein Gebiet, das so dynamisch ist wie die Paläoanthropologie“, fasst Madelaine Böhme zusammen. Und sie ist sich sicher: „Wir werden hier noch viele Überraschungen erleben.“

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