Afghanistan Eine Schande
Das Afghanistan-Fiasko hat viele Ursachen. Das öffentliche Desinteresse im Westen gehört dazu, meint unser Berliner Korrespondent Christopher Ziedler.
Das Afghanistan-Fiasko hat viele Ursachen. Das öffentliche Desinteresse im Westen gehört dazu, meint unser Berliner Korrespondent Christopher Ziedler.
Berlin - Sie sind schwer zu ertragen, diese Bilder vom Flughafen in Kabul. Die Angst der Menschen, die einen Evakuierungsflieger besteigen wollen, ehe auch der letzte Flecken Freiheit an die Taliban fällt, verursacht selbst über die Distanz großes Schamgefühl, da die Hilfe zu spät und nicht in ausreichendem Maße kommt; vor allem aber weil eine andere Politik sie gar nicht in eine solch verzweifelte Lage gebracht hätte. Dabei haben die am Hauptstadt-Airport Schutzsuchenden wenigstens noch eine kleine Chance – wer in der afghanischen Provinz als Übersetzer oder Fahrer unterstützend für die Bundeswehr tätig war, bleibt aller Voraussicht nach seinem Schicksal überlassen.
In wenigen Wochen jähren sich die Anschläge vom 11. September 2001 zum 20. Mal. Es wird ein besonders bitteres Gedenken werden: Zwischenzeitlich konnten sich die USA und ihre Verbündeten zugutehalten, den Drahtzieher Osama bin Laden zur Rechenschaft gezogen und dafür gesorgt zu haben, dass vom Land, das ihm Unterschlupf gewährte, kein Terror mehr ausgeht. Auch das ist mit der Rückkehr der Taliban an die Macht nun nicht mehr gewiss.
Die westliche Koalition steht vor einem Scherbenhaufen. Sie scheitert selbst daran, alle Ortskräfte in Sicherheit zu bringen, die an eine Erneuerung ihres Landes glaubten und dafür Leib und Leben riskierten. Als wäre das nicht schlimm genug, war die Rettung einer anderen Gruppe nie wirklich geplant. Einer jungen Generation von Afghaninnen und Afghanen, die statt unter dem Schreckensregime der Taliban in einem sicherlich nicht perfekten, aber doch besseren Afghanistan aufgewachsen ist, bleibt jetzt nur noch, darauf zu hoffen, dass sich unter den islamistischen Gotteskriegern etwas moderatere Kräfte durchsetzen und wenigstens bescheidene Freiheiten erhalten bleiben – fast schon ein Widerspruch in sich.
Das Fiasko hat viele Väter und Mütter. Donald Trump leitete gegen den Rat seiner Militärs den überstürzten Abzug ein – ganz im Sinne seiner Wähler, die dem Überseeengagement ablehnend gegenüberstehen. Sein Nachfolger Joe Biden machte den Fehler, nur minimale Korrekturen an Trumps Zeitplan vorzunehmen und den Taliban trotz gegenteiliger Warnungen die Zusage einer innerafghanischen Gewaltenteilung abzunehmen. Zu groß war die Versuchung, innenpolitisch zu punkten. Nur noch raus – so lautete auch hierzulande bei vielen die Devise. Das Erreichte und Schützenswerte in Afghanistan wurde systematisch kleingeredet.
Das Desinteresse der Öffentlichkeit hat mit zum geringen Handlungsdruck beigetragen, als es darum ging zu retten, was zu retten ist. Die Bundesregierung konnte sich ohne großen Aufschrei im Klein-Klein darüber ergehen, ob die zu evakuierenden Ortskräfte Sicherheitsprüfungen durchlaufen, Reisepässe vorlegen oder Flugtickets selbst bezahlen müssen. Die Debatte über ihre mögliche Einreise war eher geprägt von möglichen Gefahren und drohenden Flüchtlingsströmen als von echter Verantwortung. Gehandelt wurde erst, als es für viele schon zu spät war. Am Ende steht ein tödliches Zögern.
Nicht nur die deutsche Regierung glaubte, mehr Zeit zu haben. Auch Experten wie Geheimdienste lagen falsch – gestützt möglicherweise auf von der korrupten Regierung in Kabul geschönte Zahlen zur Widerstandskraft der afghanischen Armee, die auszubilden und aufzurüsten das zentrale Ziel der vergangenen Nato-Einsatzjahre war. All diese Anstrengungen, bezahlt mit Geld und Leben, sind quasi über Nacht verpufft. Menschlich ist das eine Tragödie, außenpolitisch eine schwere Hypothek für die kommenden Jahre, moralisch eine Schande.