Die Bundesregierung ist wegen ihrer Fehleinschätzung in Afghanistan massiv unter Druck. Kanzlerin Merkel räumt die Fehler erneut ein. Bei ihrer Regierungserklärung tritt sie aber nicht reumütig auf.

Berlin - Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Bundestag Fehleinschätzungen in Afghanistan eingeräumt und sich als Konsequenz für eine Überprüfung aller Bundeswehreinsätze stark gemacht. Den viel kritisierten Umgang mit den ehemaligen afghanischen Mitarbeitern von Bundeswehr und Bundesministerien verteidigte die CDU-Politikerin am Mittwoch allerdings in ihrer Regierungserklärung. Außerdem sprach sie sich für Verhandlungen mit den militant-islamistischen Taliban über die Zeit nach dem Abzug der internationalen Truppen aus. Es dürfe aber „keine unkonditionierten Vereinbarungen“ mit den neuen Machthabern in dem zentralasiatischen Krisenland geben.

 

Einsatz mit großer Mehrheit gebilligt

Der Bundestag stimmte am Mittwoch nachträglich dem seit mehr als einer Woche laufenden Evakuierungseinsatz der Bundeswehr mit bis zu 600 Soldaten mit einer großen Mehrheit von 538 Stimmen zu. Es gab 9 Gegenstimmen und 89 Enthaltungen. Union, SPD, FDP und Grüne stellten sich geschlossen hinter den Einsatz. Bei Linken und AfD gab es dagegen sowohl Ja-, als auch Nein-Stimmen und Enthaltungen.

Wegen des Abzugs der US-Truppen vom Flughafen der afghanischen Hauptstadt wird mit einem Ende der größten Rettungsmission in der Geschichte der Bundeswehr schon in den nächsten Tagen gerechnet. Die Zustimmung des Bundestags erst nach Beginn eines Einsatzes ist eine Ausnahme, weil „Gefahr im Verzug“ war.

Die Taliban hatten Afghanistan Mitte August in wenigen Tagen und ohne größere Gegenwehr der Streitkräfte erobert. 26 westliche Staaten versuchen nun eiligst, ihre eigenen Staatsbürger und schutzsuchende Afghanen auszufliegen. „Die Entwicklungen der letzten Tage sind furchtbar, sie sind bitter“, sagte Merkel dazu. „Für viele Menschen in Afghanistan sind sie eine einzige Tragödie.“

Die CDU-Politikerin räumte im Parlament erneut ein, dass die Bundesregierung wie auch die gesamte internationale Gemeinschaft Fehleinschätzungen getroffen habe. Sie kündigte eine intensive Aufarbeitung der Hintergründe des Desasters an. Dafür werde man aber Zeit brauchen. Denn von den Antworten werde „abhängen, welche politischen Ziele wir uns realistischerweise für zukünftige und für aktuelle weitere Einsätze im Ausland setzen dürfen“.

Merkel weist Vorwürfe zurück

Den Vorwurf einer zu zögerlichen Aufnahme ehemaliger afghanischer Mitarbeiter wies Merkel weitgehend zurück. Man sei in einem Dilemma gewesen. „Stellen wir uns für einen Moment vor, Deutschland hätte im Frühjahr nicht nur mit dem Abzug der Bundeswehr begonnen, sondern gleich auch mit dem Abzug von Mitarbeitern und Ortskräften deutscher Hilfsorganisationen“, sagte sie. „Manche hätten dies sicher als vorausschauende Vorsicht gewürdigt, andere dagegen als eine Haltung abgelehnt, mit der Menschen in Afghanistan im Stich gelassen und ihrem Schicksal überlassen werden.“ Beide Sichtweisen hätten ihre Berechtigung.

Die Bundesregierung habe damals sehr gute Gründe dafür gesehen, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zu helfen. Im Nachhinein sei es leicht, die Situation zu analysieren und zu bewerten. „Hinterher, im Nachhinein, alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos.“ Doch die Entscheidung habe in der damaligen Situation getroffen werden müssen.

Kritik von den Linken

Das Patenschaftsnetzwerk für die Ortskräfte, eine unabhängige Hilfsorganisation, hatte der Bundesregierung am Dienstag „unterlassene Hilfeleistung“ vorgeworfen und vor allem das Kanzleramt dafür verantwortlich gemacht.

Auch in der Debatte gab es scharfe Kritik am Agieren des Kabinetts. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch sagte an die Adresse von Außenminister Heiko Maas (SPD), Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU): „Die letzten Wochen sind unentschuldbar. Die Folgen Ihrer Fehler gefährden Menschenleben. Sie sind in Ihren Ämtern gescheitert.“

AfD gegen Aufnahme von Flüchtlingen

FDP-Fraktions- und Parteichef Christian Lindner forderte breite Hilfen für Unterstützer der Bundeswehr, Hilfsorganisationen, Frauen- sowie Menschenrechtler und Journalisten in Afghanistan. „Deutsche Bürokratie darf hier kein Menschenleben fordern.“ Die AfD-Fraktion unterstützt nur in eng begrenztem Umfang die Evakuierung ehemaliger Ortskräfte der Bundeswehr. Darüber hinaus sollte Deutschland aber keine weiteren Flüchtlinge aus dem inzwischen wieder von den Taliban kontrollierten Land aufnehmen, forderte der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland.

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bekräftigte ihre Forderung nach Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses nach der Bundestagswahl. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warb dagegen für die Einrichtung einer Enquetekommission, die allerdings schwächere Instrumente zur Aufarbeitung hat. Ein Untersuchungsausschuss kann Zeugen vorladen und Akteneinsicht verlangen.

Merkel: Taliban werden in Afghanistan bleiben

Für die kommenden Wochen und Monate kam Merkel zu der ernüchternden Erkenntnis, dass man in Afghanistan nun nicht mehr an den Taliban vorbeikomme. „Unser Ziel muss es sein, dass so viel wie möglich von dem, was wir in den letzten 20 Jahren in Afghanistan an Veränderungen erreicht haben, bewahrt wird“, sagte sie. Darüber sei auch mit den Taliban zu sprechen. „Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan. Diese neue Realität ist bitter, aber wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen.“

Der deutsche Diplomat Markus Potzel führt bereits seit einigen Tagen in Katar Gespräche mit Taliban-Vertretern über die Evakuierung von Menschen nach Abzug der US-Streitkräfte. Am Mittwoch twitterte er, die neuen Machthaber in Kabul hätten zugesagt, Afghanen auch nach dem 31. August mit zivilen Maschinen ausreisen zu lassen. Die Taliban bestätigten das in einer Mitteilung.

Neben der Ausreisefrage ging es in den Gesprächen auch um Hilfszahlungen. Potzel bekräftigte nach eigenen Angaben die Zusage von 100 Millionen Euro humanitärer Soforthilfe für notleidende Menschen in Afghanistan. Eine Fortsetzung der Entwicklungshilfe schloss er nicht aus. „Die Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit wird von Bedingungen abhängen, so wie das auch mit der afghanischen Regierung in der Vergangenheit der Fall war.“