Afghanistankonflikt Deutschland plant 10 000 Menschen aus Kabul zu evakuieren
Wegen ihrer Zögerlichkeit im Umgang mit afghanischen Ortskräften ist die Bundesregierung unter enormen Rechtfertigungsdruck geraten.
Wegen ihrer Zögerlichkeit im Umgang mit afghanischen Ortskräften ist die Bundesregierung unter enormen Rechtfertigungsdruck geraten.
Berlin - Angesichts der dramatischen Entwicklung in Afghanistan wehrt sich die Bundesregierung gegen Vorwürfe, viel zu spät mit der Evakuierung von gefährdeten Ortskräften begonnen zu haben. Seit Monaten werde bereits an entsprechenden Verfahren gearbeitet, sagte ein Sprecher von Außenminister Heiko Maas (SPD) am Montag in Berlin. „Richtig ist, dass unsere Einschätzung, wie sich die Lage entwickeln wird, falsch war.“ Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, es gehe jetzt darum, so viele afghanische Helfer wie möglich aus Kabul auszufliegen. Es werde einen Zeitpunkt geben, an dem der gesamte Afghanistan-Einsatz politisch bewertet werden müsse. „Heute ist nicht der Tag dafür.“
Kanzlerin Angela Merkel sprach im CDU-Vorstand davon, dass Deutschland rund 10 000 Personen aus Afghanistan evakuieren wolle. Es geht um Einheimische, die in den vergangenen Jahren etwa als Dolmetscher oder Fahrer für die Bundeswehr, deutsche Behörden oder zivile Organisationen gearbeitet hatten sowie um deren Familienangehörigen. Auch Personen wie Anwälte oder Menschenrechtler sollen ausreisen. Deutsche Medien appellieren an die Regierung, ihre afghanischen Mitarbeiter ebenfalls zu retten.
Die ehemaligen Helfer müssen nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban mit Rache rechnen und fürchten um ihr Leben. Realistische Chancen auf eine Rettung dürften jedoch nur diejenigen haben, die sich in Kabul aufhalten – aber kaum jene, die sich noch in der Gegend um die einstigen Bundeswehr-Lager in Kundus und Masar-i-Scharif im Norden befinden.
Die Bundeswehr hatte Anfang Mai zusammen mit Truppen anderer Nato-Länder ihren Abzug aus Afghanistan begonnen und diesen Ende Juni abgeschlossen. Bereits seit Jahren wird hierzulande über die Frage diskutiert, wie ehemalige Ortskräfte nach einem Abzug der Bundeswehr in Sicherheit gebracht werden können.
Noch im Juli trat ein offener Dissens zwischen dem Verteidigungs- und dem Innenministerium, die beide von der Union geführt werden, offen zutage. Die Visumsvergabe verlief bis zuletzt nur schleppend – sehr zum Missfallen von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Innenminister Horst Seehofer (CSU) pochte jedoch darauf, jede einzelne Ortskraft einer individuellen Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen. Jeder Antragssteller sollte darlegen, warum er gefährdet ist. Wurde ein Visum erteilt, sollten sich die Betroffenen und ihre Familien selbst Flugtickets kaufen – eine gewaltige Hürde in dem bettelarmen Land.
Zunächst sollten auch nur Helfer antragsberechtigt sein, deren Tätigkeit für deutsche Stellen nicht länger als zwei Jahre zurücklag. Die Bundeswehr war aber 20 Jahre lang in Afghanistan. Bis kurz vor der endgültigen Machtübernahme der Taliban konnten rund 1800 Afghanen mit Visum nach Deutschland einreisen.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagte nun mit Blick auf die aktuelle Lage, es dürfte keine bürokratischen Hürden mehr für Ortskräfte geben. „Da ist in den vergangenen Wochen zu viel Zeit verloren worden. Das war ein Fehler.“ Der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff warf den drei beteiligten Ministern vor, bei den Evakuierungen „auf ganzer Linie versagt“ zu haben.
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sagte: „Wir hatten bereits vor der Beginn der Sommerpause im Deutschen Bundestag beantragt, Menschen zu evakuieren. Das ist nicht getan worden, man hat es einfach negiert.“ Baerbock bezog sich damit auf einen Antrag ihrer Fraktion aus der zweiten Aprilwoche, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, afghanische Ortskräfte mitsamt ihren Angehörigen großzügig aufzunehmen. Bei der Abstimmung im Parlament am 23. Juni lehnte eine breite Mehrheit aus Union, SPD und AfD den Antrag ab. Grüne und Linke stimmten dafür, die FDP enthielt sich. Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter schrieb am Sonntag nach dem Fall Kabuls selbstkritisch auf Twitter: „Es war ein großer und gravierender Fehler, den Antrag der Grünen – aus Prinzip – abzulehnen. Punkt.“
Noch viele Deutsche im Land
Staatsbürger
Neben ehemaligen Ortskräften soll die Bundeswehr so schnell wie möglich auch die in Afghanistan verbliebenen Deutschen ausfliegen. Nach Erkenntnissen des Auswärtigem Amts befand sich am Montag noch „eine hohe zweistellige Zahl“ von Bundesbürgern in dem Land.
Diplomaten
In der Nacht zu Montag hatten bereits 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft an Bord einer US-Maschine Kabul verlassen können. Sie wurden nach Doha (Katar) gebracht. Ein kleines Team der Botschaft hält weiter die Stellung.