Experten rechnen damit, dass künftig noch mehr Afrikaner als jetzt nach Europa streben. Ihrer Ansicht nach würde eine beschränkte Zahl von befristeten Aufenthaltsgenehmigungen die Situation entspannen.

Accra - Jamal Kwabena befindet sich schon wieder auf dem Weg. Es ist das dritte Mal, dass der 28-Jährige seine Heimat, Ghanas Hauptstadt Accra, verlassen hat, um mehrere Tausende Kilometer weiter nördlich das Glück und etwas Geld zu suchen. Die ersten beiden Male steuerte der Mann mit Abiturabschluss Libyen an, wo er sich als Anstreicher verdingte. Doch weil der Unruhestaat zu heiß geworden ist, muss Kwabena diesmal weiter reisen – bis nach Deutschland, wo ein Vetter von ihm lebt. Noch am Abend wird Kwabena die nigrische Wüstenstadt Agadez verlassen, um auf der Ladefläche eines Pick-ups die Sahara zu durchqueren: einer von rund 2000 Migranten, die Woche für Woche die „westliche Route“ in den Norden wählen.

 

Kwabena ist typisch für die Afrikaner, die sich zu Hunderttausenden auf den Weg nach Europa machen – und er ist das Gegenteil der herrschenden Vorstellung, die sich europäische Politiker von einem afrikanischen Migranten machen. Wenn sich noch bis Donnerstag EU-Repräsentanten auf Malta mit ihren afrikanischen Amtskollegen treffen, um über die Flüchtlingskrise zu beraten, werden die Europäer von dem Klischee geleitet sein, dass es sich bei den Migranten aus Afrika um arme Flüchtlinge handelt, die ihrem schrecklichen Schicksal zu entkommen suchen und den europäischen Staaten auf den Taschen liegen werden.

Klischees bestimmen das Bild Afrikas

  Fast alles an diesem Bild ist falsch, weiß Hein de Haas vom Londoner Internationalen Migrationsinstitut zu berichten. Seinen durch Feldstudien untermauerten Erkenntnissen zufolge sind die meisten Migranten – zumindest nach afrikanischem Maßstab – gar nicht arm, sonst könnten sie sich weder das Geld für die teuren Schlepper oder ihr Handy leisten. Die meisten Migranten suchen nach zeitlich befristeten Möglichkeiten zum Geldverdienen, um sich und ihre Familie zu Hause auf eine bessere Grundlage zu stellen. Diese Art von Migration ist in Westafrika seit ewigen Zeiten üblich. Zunächst zogen viele Afrikaner aus der Sahelzone in die Kakaoplantagen der relativ reichen Elfenbeinküste, später vor allem in das Erdölland Libyen. „Gastarbeiter“ aus Mali und Burkina Faso hatten jahrzehntelang in der Elfenbeinküste ihr Auskommen, bis eine Staatskrise die Zuwanderung stoppte. Das gleiche gilt für Libyen: Als mit dem Arabischen Frühling Unruhen das Land erfassten und es durch den Eingriff westlicher Länder vollends in Auflösung geriet, blieb den Migranten nichts anderes übrig, als ihr Glück weiter nördlich zu suchen.

 Hein de Haas ist überzeugt davon: Würden derartige Wanderungsbewegungen durch zumindest eine beschränkte Zahl von Aufenthaltsgenehmigungen ermöglicht, dann könnten alle Seiten davon profitieren. Die Migranten verdienen etwas Geld und kehren nach ein paar Jahren in ihre Heimat zurück. Die überalterten europäischen Gesellschaften „nutzen“ die – preiswerten – Arbeitskräfte. Und den afrikanischen Staaten kommen sowohl die Zuwendungen zugute, die die Migranten an ihre Familien schicken, als auch deren neue, in der Ferne erlernten Fähigkeiten.  

Begrenzte Aufenthaltserlaubnis wirkt entlastend

Stattdessen geht in Europa die Angst vor der „Überfremdung“  um. Deshalb werden nicht einmal mehr befristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilt, was das Gegenteil der europäischen Absicht bewirkt. Da sie nicht wissen, ob sie jemals wieder eine Chance erhalten, bleiben die illegal einreisenden Migranten für lange Zeit in Europa, selbst wenn sie keinen Job finden. Gleichzeitig werden die wanderungswilligen Afrikaner zu gefährlichen Manövern gezwungen, um in den verheißungsvollen Norden zu kommen: Hunderte verdursten in der Wüste, Tausende ertrinken im Mittelmeer.