Ist die Agenda 2010 am Ziel oder am Ende? Die Stuttgarter Zeitung zieht Bilanz: Die SPD zählt zu den Opfern, die Linke zu den Gewinnern.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)
Berlin - Unter welcher Kapitelüberschrift wird Gerhard Schröder dereinst in die Annalen der Sozialdemokraten eingehen? Als ruhmreicher Reformator? Oder als einer ihrer Totengräber? Mit seiner Regentschaft begann der Niedergang der SPD, der bis jetzt kein Ende gefunden hat. Er begann am 14. März des Jahres 2003, als Schröder im Bundestag seine Agendarede hielt. Schröders Reforminitiative hat ein politisches Erdbeben ausgelöst, das zu Verwerfungen in der Parteienlandschaft führte. Sie waren beispiellos in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Mit der Agenda änderte sich nicht nur die Tonlage sozialpolitischer Debatten, die Verhältnisse in den Fluren der früheren Arbeitsämtern und auf dem Arbeitsmarkt selbst. Die Agenda veränderte auch die Republik.

Schröder war fünf Jahre lang SPD-Vorsitzender. Sein folgenreichster Fehler in diesem Amt war, dass er es versäumte, seine Partei rechtzeitig auf den von ihm verordneten Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik vorzubereiten und sie nachhaltig von dessen Notwendigkeit zu überzeugen. Seine Sozialpolitik gegen die Traditionen und Denkstrukturen der Sozialdemokratie empfanden viele Genossen als Putsch von oben. Schröder gelang es zunächst zwar, die SPD auf den neuen Kurs zu zwingen, doch er verlor rasch Gefolgschaft, Vertrauen und Loyalität. Daran ist seine Regierung schließlich gescheitert. Der Parteienforscher Franz Walter resümiert: "Das Problem war nicht nur die Agenda an und für sich, sondern ebenso der Stil."

Im Juni 2003 erreichte der damalige Bundeskanzler noch, dass ein SPD-Parteitag seine neue Politik zähneknirschend absegnete. Im März 2004 sah er sich zum Rückzug von der SPD-Spitze veranlasst. Im Sommer des Folgejahres war seine Regierung dann am Ende. Den darauf folgenden Wahlkampf unter Schröders Führung deuteten viele schon als Beginn eines Rollback gegen die eigene Agendapolitik.

Gründung der WASG


Aber da war längst ein Prozess im Gange, der die SPD bis jetzt nur auf der Verlierseite sah. Zu den Gewinnern zählt die linke Konkurrenz, die zu Schröders Zeiten nur als Nachlassverwalter der alten SED wahrzunehmen war und sich zeitweise mit zwei Einzelsitzen im Bundestag begnügen musste. Am Ende des Prozesses hat sich ein Fünfparteiensystem etabliert, von dem die SPD bisher am allerwenigsten profitiert. Sie sieht sich in den bevölkerungsreichsten Ländern aus der Regierung gedrängt. Millionen von Wählern und fast die Hälfte ihrer Mitglieder sind ihr davongelaufen. Die traditionsreichste deutsche Partei ist seit 2008 nicht mehr die stärkste. Inzwischen zählt die CDU mehr Mitglieder - früher hatte die SPD einmal doppelt so viele wie die konkurrierende Volkspartei.

Die schleichende Revolution im politischen Betrieb begann in den Herbsttagen des Jahres 2003. Damals gab es in zahlreichen Städten sogenannte Montagsaktionen. Sie gipfelten in einer bundesweiten Demonstration, zu der am 1. November 2003 mehr als 100.000 Protestler nach Berlin kamen. Im gewerkschaftlichen Milieu, das zuvor treu zur SPD stand, formierten sich verschiedene Organisationen, aus denen im Januar 2005 die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) hervorging - die das Standbein einer neuen regierungsfähigen Partei links der SPD im Westen werden sollte. Mit der WASG bekam der Protest frustrierter Gewerkschafter und orthodoxer Marxisten ein Logo.

Oskar Lafontaine machte ihn schließlich hoffähig. Nach dem symbolträchtigen Scheitern der Sozialdemokraten im Frühjahr 2005 bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, das bis dahin als "Herzkammer der Sozialdemokratie" gegolten hatte, erklärte der frühere SPD-Chef seinen Austritt und verschrieb sich dem Projekt, die Linken jenseits der SPD zu vereinen. Inzwischen hat sich die Linkspartei, die ihre gesamtdeutsche Existenz und Stärke letztlich der Agenda verdankt, im Bundestag etabliert und ist in zwölf von 16 Landesparlamenten vertreten. Und sie bestimmt, wenn auch uneingestanden, die Strategiedebatten der SPD - Ironie der Geschichte.

Erste Korrekturen der Agendapolitik


Damit sind die politischen Folgewirkungen der Agenda aber nur unvollständig beschrieben. Das Erstarken der Linkspartei ließ auch die anderen Parteien nicht unbeeindruckt. Die oft beschriebene Sozialdemokratisierung der Union war keineswegs vorrangig dem Einfluss der SPD-Minister auf die CDU-Kanzlerin Angela Merkel zu Zeiten der Großen Koalition zu verdanken. Merkel reagierte auf eine wachsende "Sehnsucht nach Gerechtigkeit", welche die "Zeit" im Sommer 2007 diagnostizierte.

Der Einfluss des zeitweiseverkümmerten Sozialflügels in der CDU wuchs, der Reformelan verkümmerte. Ein CDU-Mann wie Jürgen Rüttgers darf sich "Arbeiterführer" nennen. In den Reihen der SPD gibt es niemanden mehr, der diesen Anspruch für sich reklamieren könnte.

Die ersten Korrekturen der Agendapolitik hat übrigens die zeitweise in neoliberales Fahrwasser abgedriftete CDU angestoßen. Und ausgerechnet das im Wahlkampf als unsozial geschmähte bürgerliche Bündnis von Union und FDP hat sich auf die Fahnen geschrieben, Schröders Sozialreformen "gerechter" zu machen.