Ein Pärchen soll in Deutschland mehr als 20 Jahre lang für Russland spioniert haben. Nun steht es dafür in Stuttgart vor Gericht. Die wahre Identität der Angeklagten konnte bisher nicht geklärt werden.
Stuttgart - Eigentlich ist die Feststellung der Personalien von Angeklagten in Strafprozessen nur Formsache. Doch in diesem Fall bleiben die wahren Namen und Identitäten der Beschuldigten im Dunkeln. Infrage kommen bis jetzt Andreas und Heidrun Anschlag, Sasha und Oljia Rost oder einfach nur „Pit“ und „Tina“. Auf die ersten Namen lauten die offenkundig falschen Pässe der beiden Angeklagten, die zweiten gelten laut Ermittler als Codes, mit denen das Paar sich im Notfall bei ihren Auftraggebern hätte melden sollen, und hinter den beiden unscheinbar klingenden Vornamen stecken wahrscheinlich ihre nachrichtendienstlichen Decknamen.
Seit Dienstag muss sich das Ehepaar am Oberlandesgericht Stuttgart wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verantworten. Seit dem Fall der Mauer gab es keinen größeren Spionageprozess. Mehr als 20 Jahre lang sollen der Mann und die Frau, die ihren österreichischen Pässen nach 53 und 47 Jahre alt sind, in Deutschland für den russischen Auslandsgeheimdienst SWR – der Nachfolgeorganisation des berüchtigten KGB – spioniert haben. Zum Prozessbeginn kündigen beide an, zu den Vorwürfen zu schweigen. Über seinen persönlichen Werdegang sagt das Paar nichts.
Die Bundesanwälte wollen den Spionagevorwurf beweisen.dpa
Die Richter des 4. Strafsenats suchen daher zu Beginn der Verhandlung zunächst nach einer passenden Anrede. Als die Vorsitzende Richterin Sabine Roggenbrod das Paar fragt, ob sie es zur „Erleichterung der Kommunikation“ mit den Namen aus ihren mutmaßlich falschen Pässen anreden soll, bleiben der Mann und die Frau aber regungslos. Erheiterung löst indes die Antwort einer der vier Verteidiger im Saal aus, in dem 30 Zuhörer sitzen – vor allem Pressevertreter: „Mein Mandant hat sich an den Namen gewöhnt. Bleiben wir also dabei.“ Man einigt sich somit auf die Namen Andreas und Heidrun Anschlag.
Die beiden Angeklagten wirken völlig unauffällig. Sie ist blond, er grau meliert, beide sind durchschnittlich groß. Dem Klischee eines blendend aussehenden oder düster blickenden Spions entsprechen die beiden in keiner Weise.
Die Ermittler haben eine abenteuerliche Biografie des Paares rekonstruiert, die ins Jahr 1984 und damit in die Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West zurückreicht. Damals stellen österreichische Behörden dem Paar unter dubiosen Umständen Pässe aus, einen auf Andreas Anschlag, geboren am 6. Dezember 1959 in Argentinien, und einen auf Heidrun Freund, geboren am 4. Dezember 1965 in Peru. Dazu legen sie Geburtsurkunden vor, die beide als Kinder österreichischer Emigranten in Südamerika ausweisen. Mit diesem Trick bekommen sie legale Papiere und mit der Herkunft lässt sich ihr Akzent erklären. Zuvor sollen die beiden in Moskau die Agentenschule des KGB besucht haben. Dort werden auch „Germanisten“ ausgebildet, Experten für die Spionage in Deutschland.
Angeklagte und Anwälte schweigen zu den Vorwürfen.dpa
1988 reist Andreas Anschlag nach Westdeutschland ein, nimmt sich in Aachen eine Wohnung. Zwei Jahre später tritt das Paar in Österreich vor den Altar. Es schlüpft in Nordrhein-Westfalen unter den Deckmantel einer bürgerlichen Existenz: Während der Mann an der Technischen Hochschule in Aachen Maschinenbau studiert und später bei mehreren Firmen als Ingenieur arbeitet, kümmert sich die Frau um den Haushalt. Eine Tochter kommt zur Welt. Die Ermittler gehen davon aus, dass ihr die Eltern nie von ihrem Doppelleben berichten. Nach der Verhaftung sei sie aus allen Wolken gefallen und habe entsprechend mit den Vorgängen zu kämpfen, erläutert ein Gerichtssprecher.
Im Jahr 1990 soll das Agentenleben des Paares Fahrt aufgenommen haben. Von Aachen und den späteren Wohnorten in Meckenheim bei Bonn, Landau in der Pfalz sowie zuletzt vom hessischen Marburg und von einem Zweitwohnsitz in Balingen im Zollernalbkreis aus hätten der Mann und die Frau 21 Jahre lang unerkannt Informationen über geheime politische und militärische Angelegenheiten der Europäischen Union und der Nato gesammelt und nach Moskau weitergeleitet, so die Anklage.
Dabei soll vor allem ein dicker Fisch angebissen haben: Ein Beamter des niederländischen Außenministeriums, der den Decknamen „BR“ bekam und vermutlich wegen seiner Spielsucht finanziell in Bredouille geriet, habe von 2008 bis 2011 für 72 000 Euro unter anderem als geheim und vertraulich eingestufte Interna über das geplante Raketenabwehrsystem der Nato verraten, das Russland lange Zeit als Bedrohung der eigenen Sicherheit gewertet hat. Auch Informationen über neue strategische Konzepte, über Strukturreformen im Hauptquartier, über Bedrohungsanalysen der Nato sowie über den Isaf-Einsatz in Afghanistan soll „BR“ preisgegeben haben. Bei der Übergabe der Informationen kamen laut Ermittlern sogenannte tote Briefkästen zum Einsatz, allein stehende Bäume, Holzkreuze oder markante Steine, wo vermutlich andere Agenten der russischen Botschaft die USB-Sticks abholten und weiterreichten.
Ihre Anweisungen soll das Paar hauptsächlich über Agentenfunk bekommen haben, sie hätten mit einem Satellitentelefon über Textnachrichten kommuniziert und später im Internet auf der Videoplattform Youtube Nachrichten hinterlassen, indem Heidrun Anschlag unter dem Pseudonym „Alpenkuh 1“ verschlüsselte Botschaften schrieb – auf die wiederum Agentenkollegen mit dem Namen „Christiano Footballer“ ebenfalls chiffriert antworteten. „Das Paar hat für seine Agententätigkeit zuletzt monatlich 8300 Euro erhalten“, sagt der Ankläger der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe.
Horst-Dieter Pötschke gilt als „Anwalt der Spione“.dpa
Durch den Tipp eines befreundeten osteuropäischen Nachrichtendienstes gerät das Ehepaar Anschlag im August 2011 ins Visier der deutschen Spionageabwehr. Auch die Amerikaner schalten sich ein. Es gelingt, die Kommunikation zwischen Marburg und der Zentrale in Moskau abzuhören. Doch die Anschlags selbst bekommen einen Wink, wonach sie aufzufliegen drohen. Sie entwickeln einen Rückzugsplan und hoffen, dass sie noch zurück nach Russland fliehen können.
Doch am 18. Oktober 2011 fliegt das Paar auf: Eine Truppe der Antiterroreinheit GSG 9 reißt Andreas Anschlag mitten in der Nacht in der Zweitwohnung des Paares in Balingen aus dem Schlaf und nimmt ihn fest. Wenige Stunden später stürmt eine weitere Spezialeinheit die eheliche Wohnung in Marburg. Just in diesem Moment sitzt Heidrun Anschlag dort an ihrem Kurzwellenempfänger. Es gelingt ihr noch, den Netzstecker zu ziehen, so dass der Draht nach Moskau abgeschnitten wird – die Kontaktperson bliebt unerkannt. Unter Schock stehend räumt die Frau noch ein, dass sie entschlüsselte Nachrichten gelöscht habe, die ihr Mann zuvor gelesen habe. Sie sei nur für die Technik zuständig gewesen. Zudem erklären die beiden, dass sie Sasha und Olija Rost hießen. Der Mann hatte anfangs noch bei jedem Vorwurf mit einer Erklärung aufgewartet. Doch schon kurz darauf schweigt das Paar eisern.
Die Enttarnung ist Thema auf höchster diplomatischer Ebene. Selbst die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin sollen unterrichtet worden sein. Man sucht nach einer Lösung. Ein Agententausch mit Russen ist im Gespräch, die für einen mit Deutschland befreundeten Nachrichtendienst tätig waren und ebenfalls aufflogen. Doch der Deal scheitert.
Nun wird in Stuttgart verhandelt. Die Generalbundesanwaltschaft spricht von einem „herausstehenden“ Spionagefall. Den beiden Angeklagten drohen bis zu zehn Jahre Haft. 31 Verhandlungstage sind bis Mitte März angesetzt. Zahlreiche Zeugen sind geladen, darunter auch einige Ermittler. Als Hauptbelastungszeuge ist der niederländische Beamte im Gespräch, der dem Paar die Geheimnisse verraten haben soll und der seit März 2012 in Untersuchungshaft sitzt. Offen ist indes, ob der Mann aussagen wird.
Der Mann, der vor Gericht Andreas Anschlag genannt wird.dpa
An der Seite von Andreas Anschlag in Stuttgart sitzt wiederum ein prominenter Rechtsanwalt. Horst-Dieter Pötschke. Der 73 Jahre alte Münchner gilt in Deutschland als „der Anwalt der Spione“. Zu seinen Mandanten zählten bereits wichtige Agenten des KGB und der Stasi – darunter auch Günther Guillaume, der Spion im Kanzleramt, über den Willy Brandt im Jahr 1974 als Regierungschef stürzte. Pötschke sagt, dass er einen raschen Prozess erwarte. Wie das gehen soll, wenn das Ehepaar Anschlag schweigt, ist offen. Es hofft offenbar auf ein mildes Urteil und einen späteren Agententausch, so dass die beiden doch noch in ihre Heimat zurückkehren könnten.