Seit bald fünfzig Jahren läuft die Sendung „Aktenzeichen XY. . . ungelöst“ im ZDF. Sie ist ein Markenzeichen des deutschen Fernsehens geworden und kombiniert erfolgreich Verbrechensbekämpfung mit wohligem Nervenkitzel.

Stuttgart - Nichts ahnend öffnet die Sparkassenangestellte in den Morgenstunden die Tür zur Bankfiliale, als sie plötzlich von einem Mann bedroht wird: Filme dieser Art hat „Aktenzeichen XY. . . ungelöst“ seit 1967 vermutlich zu Dutzenden gezeigt. Die Vorstellung eines Banküberfalls in der Nachbarschaft ist schon gruselig genug, aber dieses Unbehagen ist nichts im Vergleich zu einem Fall, den die Sendung in ihrer aktuellen Ausgabe vorstellt: Eine Frau ist in ihrem eigenen Bett vergewaltigt worden.

 

Das Spektrum der in „XY“ vorgestellten Fälle reicht vom Diebstahl des Tores zur KZ-Gedenkstätte Dachau über Internet-Kriminalität bis hin zu Beiträgen über den „Enkeltrick“, mit dessen Hilfe Ganoven alte Herrschaften um ihre Ersparnisse bringen. Die Skrupellosigkeit mancher Verbrecher ist schockierend. Zuschauer von „Aktenzeichen XY“ wissen: Die Seele des Menschen – ein Abgrund. Dank Eduard Zimmermann, der die Sendung vor fast fünfzig Jahren erfunden hat, kann das Publikum gefahrlos, aber mit wohligem Gruseln einen Blick in diese Abgründe werfen.

Versierte Krimiregisseure

Das Konzept wurde nie variiert

Dass sich die Zuschauer darüber hinaus an der Jagd auf die Verbrecher beteiligen dürfen, ist ein willkommener Nebeneffekt, aber für die meisten sicher nicht der Hauptgrund, der Reihe die Treue zu halten. Die erste Ausgabe ist im Oktober 1967 ausgestrahlt worden: Die Sendung ist nicht nur eines der populärsten, sondern auch dienstältesten TV-Markenzeichen.

Das Konzept ist im Grunde nie variiert worden: Der Moderator, mittlerweile Rudi Cerne, führt in den Fall ein, es folgt ein kurzer Spielfilm, in dem das Verbrechen nachgestellt wird, dann spricht Cerne im Studio mit dem zuständigen Kripo-Beamten. Selbst das Muster der Filme hat sich kaum gewandelt. Sie rekonstruieren nicht einfach den Tathergang, sondern erzählen stets kleine Geschichten. Die Protagonisten bekommen auf diese Weise mehr Tiefe, so dass man sich mit ihnen identifizieren kann. Früher waren diese Einspielfilme mitunter unfreiwillig komisch, weil die engagierten Darsteller zwar eifrig, aber nicht talentiert waren. In dieser Hinsicht hat sich vielleicht am meisten verändert. Die Beiträge stammen mittlerweile zum Teil von versierten Krimiregisseuren und sind handwerklich sehr solide.

Die Verbrechen vor der Haustür

Für den Kölner Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger liegt die ungebrochene Faszination von „Aktenzeichen XY. . . ungelöst“ in der Bedrohung der eigenen Lebenswelt. Als wirklich bedrohlich empfinden die Menschen demnach vor allem zwei Dinge: „Das völlig Fremde und den Nachbarn. ‚XY’ kombiniert nun diese beiden Dimensionen, zumal die Beiträge stets suggerieren, die Gefahr befinde sich in unmittelbarer Nähe, was wiederum den Intimangstbereich betrifft.“ Das unterscheide die Sendung auch von jenen Reality-Reihen, mit denen RTL („Verdachtsfälle“) und Sat 1 („Auf Streife“) ihre Nachmittage bestreiten: „Bei ‚XY’ ist alles wirklich echt.“

Die Redaktionsleiterin Ina-Maria Reize sieht das ähnlich: „Die gezeigten Verbrechen spielen sich gewissermaßen vor der eigenen Haustür ab. Was wir zeigen, könnte theoretisch jeden treffen. Andererseits öffnen wir ein Fenster in eine Welt, die dem Zuschauer normalerweise verborgen bleibt und vor der man sich eigentlich fürchtet.“

Über die Auswahl der vorgestellten Fälle entscheiden jedoch andere Kriterien: „Es kommen ausschließlich schwere Verbrechen in Frage“, sagt Reize. Man stelle allerdings nur Fälle vor, bei denen die Polizei „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausgereizt hat und nun auf die Öffentlichkeit setzt.“ Mit Erfolg: vierzig Prozent der „XY“-Fälle werden aufgeklärt, weshalb die Polizei gern zur Zusammenarbeit bereit ist. Trotzdem werden die Ermittlungsbehörden nicht von sich aus aktiv; die Initiative geht stets von der Redaktion aus.

Respektvoller Umgang mit Tätern und Opfern

Vor 15 Jahren, sagt Reize, sei das noch anders gewesen, „da hatten wir jede Woche Dutzende von Anfragen in der Post“. Angesichts von mittlerweile vielen TV-Sendungen, die sich mit realen Verbrechen befassten, geht die Polizei offenbar davon aus, dass sich die Sender von sich aus melden. Bei der Umsetzung der Fälle arbeitet die Redaktion eng mit den Ermittlern zusammen: „Wir fahren für jeden unserer Fälle zur zuständigen Polizeidienststelle und lassen uns Tatörtlichkeiten und tatrelevante Zusammenhänge zeigen und erklären.“

Wenn’s der Wahrheitsfindung dient

Auch wenn die Sendung auf einen gewissen Nervenkitzel spekuliert: Reize legt Wert darauf, dass sie vor allem der Aufklärung dienen soll. Zudem arbeite die Redaktion stets in dem Bewusstsein, dass es Opfer und Angehörige gebe, die die Darstellungen ertragen müssten: „Natürlich sind wir der Wahrheit verpflichtet, aber wir stellen die Ereignisse mitunter dezenter dar, als sie sich zugetragen haben, um das Ansehen eines Opfers nicht zu beschädigen.“

Großen Anteil an dieser respektvollen Haltung hat Rudi Cerne, der seit 2002 durch die Sendung führt. Die Redaktionsleiterin lobt den Moderator als „Glücksfall“, er sei hervorragend in seine Aufgabe hineingewachsen, was der Zuschauer auch spüre. Der stets etwas förmlich wirkende frühere Eiskunstläufer wäre in jeder Unterhaltungsshow deplatziert, aber für „XY“ ist er genau der richtige.

Das gilt vor allem für seinen Umgang mit den Kommissaren, die als Studiogäste weitere Informationen liefern. Die ständig wechselnden Beamten haben in der Regel keinerlei Fernseherfahrung, daher braucht es laut Reize „viel Fingerspitzengefühl, um ihnen die Scheu vor der Kamera zu nehmen.“ Bei Rudi Cerne sind sie offenbar in den besten Händen.