Auf dem Esslinger Mittelaltermarkt hat man das Handwerk von Andreas Kingl bisher noch nicht gesehen: Mit feinem Werkzeug ritzt er Bilder in Mammut-Elfenbein. Die Technik namens Scrimshaw kommt aus dem hohen Norden.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Der Kopf war leer. Und die Arme waren kaputt. Sein Körper zeigte ihm deutlich, dass die Zeit als Werkzeugmacher in der Industrie vorüber war. Doch stand Andreas Kingl, 54, keinesfalls vor dem Nichts. Er ging den Weg in ein besseres Leben über die Mittelalterszene, und er hätte diesen Weg nicht geschafft, wenn er nicht einen Reisebegleiter gefunden hätte, der mit ihm durch dick und dünn gegangen wäre.

 

Fast zwei Kilo wiegt die Marionette an seinem Stand auf dem Esslinger Mittelaltermarkt. Plumpaquatsch heißt sie nach einer Puppe aus einer Kindersendung der 1970er-Jahre. Der kleine Wassermann hat eine Strickmütze an, sein blaues Pastellkleid ist mit Muscheln verziert. Auf den Mittelaltermärkten belebte er mit der kleinen Wasserfrau die Tradition der Puppenspieler. Lange bevor es Marionettentheater gab, gab es Marionetten, die von fahrenden Puppenspielern auf den Märkten präsentiert wurden. Die Marionette erzählte dem Publikum Geschichten, tanzte mit ihm um die Buden und Stände.

Andreas Kingl konnte in seinen Führungen und in seinem Puppenspiel ganz aufgehen: „Da vergesse ich die Welt.“ Es schien, als ob nicht nur Andreas Kingl der Puppe Leben einhauchte, sondern sie auch ihm. Gleichzeitig drang er immer tiefer in die Mittelalterszene ein. Er wurde zum Wikinger und nahm den Namen Ragnar Gwynwulfson an. Mit der Zeit genügten ihm die Auftritte nicht mehr, und er sah sich nach etwas Neuem um. Als Wikinger war er es gewohnt, seinen Schmuck selbst zu fertigen, und er begann sich für Mammut-Elfenbein zu interessieren.

Elfenbein-Schnitzerei ist die älteste Bildhauertechnik der Menschheit. Zeugen davon sind die Figuren aus der Vogelherdhöhle bei Heidenheim und die Flöte aus dem Geißenklösterle bei Blaubeuren. Kingl begann, sich aus Elfenbein Schmuck herzustellen, hin und wieder gravierte er auch Runen in das Material. Was seinen Stand am Hafenmarkt vor dem Gelben Haus so außergewöhnlich macht, es ist eine Technik, die Andreas Kingl neu begonnen hat. Sie heißt Scrimshaw und ist unter den Walfängern des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie hatten sich auf ihren langen Reisen die Zeit damit vertrieben, in Pottwalzähne, die als Abfall anfielen, kleine Bildchen zu ritzen. Mal sind Schiffe drauf oder Landkarten, manchmal haben sie ihre Lebensgeschichte eingraviert.

Scrimshaw mit legalem Elfenbein

Muss er da auf den Millimeter arbeiten? Andreas Kingl lacht. „Auf Millimeter arbeiten ist etwas für Grobmotoriker“, sagt der Kunsthandwerker. Er arbeitet viel feiner. Die ruhige Hand hat Kingl aus seiner Zeit als Werkzeugmacher. Die Ruhe entsteht sozusagen beim Arbeiten, wenn er sich Linie um Linie in das Motiv hineinfindet. Unter der Lupe sieht man ein Stück Zahn liegen. Kingl graviert Drachen hinein und anderes Bildmaterial aus der nordischen Mythologie. Er arbeitet nur mit Mammut-Elfenbein. Elefanten-Stoßzähne zu nehmen, ist nicht nur illegal, sondern auch ein Verstoß gegen alles, was Andreas Kingl heilig ist. Ebenso verbietet er sich, Walrosszähne zu gravieren, denn er will nicht, dass seinetwegen ein Tier getötet wird. Anhand der Struktur der Zähne kann Kingl zweifelsfrei feststellen, von welchem Tier der Zahn stammt.

Seit 2013 ist Andreas Kingl auf den Mittelaltermärkten Mitteleuropas unterwegs. Sein Stand mit Schmuck und Scrimshaw verschafft ihm ein Einkommen, auch wenn er vielleicht nur einen Stundenlohn von zehn Euro erwirtschaftet, aber: „Ich mache nur noch, was mir Spaß macht.“

Wenn er wie die Walfänger sein Leben auf einen Pottwalzahn gravieren sollte, wie sähe das Bild aus? Er dreht sich um: „Die Marionette. Sie hat mein Leben geändert, ihr habe ich alles zu verdanken.“