Arttours heißt eine Reihe künstlerischer Stadtführungen. Manches Erlebnis erscheint skurril.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Ich darf hier ausnahmsweise persönliche Erlebnisse servieren. Denn nur die, nichts anderes, sind der Sinn eines Besuches bei Myriam. Wer kein Bedürfnis danach hat, kann hier die Lektüre beenden und wird Myriam nie kennenlernen, es sei denn zufällig während einer Reise nach Paris, denn dort wohnt sie.

 

Myriam Lefkowitz, geboren 1980, lebt und arbeitet als Künstlerin, Sparte Performance – in volkstümlicher Übersetzung also „Sparte Versponnen“. So gesehen hilft Myriam mir, mich an diesem sonnigen Tag zum Affen zu machen, zur Mittagszeit, während nicht Gott, aber alle Gesandten der Welt aus Büros und Läden im Gerberviertel quillen. Wer mich wie angafft während dieser Performance, weiß ich nicht. Myriam führt mich. Sie hat mir verboten, die Augen zu öffnen, es sei denn, sie erlaubt es für eine oder zwei Sekunden. In denen schießt das Gehirn eine Momentaufnahme, einer Kamera gleich. Klick. Myriam hat außerdem befohlen, zu schweigen. Sie sagt: Open your eyes. Close your eyes. Step up. Step down – Augen auf, Augen zu, Stufe rauf, Stufe runter. Ich sage „Hallo“, wenn ich in jenen Klick- Sekunden Fremden in die Augen blinzle.

Dies ist ein Teil der Arttours, einer Serie ungewöhnlicher Führungen. Die Stadtführer sind Künstler, Myriam Lefkowitz ist eine von ihnen. Die Geführten sollen das Wesen der Stadt allein erkennen. Niemand sagt ihnen, was sie von Orten halten sollen. Jede Tour hat ein anderes Konzept, vieles scheint skurril. Es gibt eine Rundfahrt im pedalgetriebenen Porsche. Myriam gehört zu der Gruppe, die Menschen blind durchs Gerberviertel taumeln lässt.

Ein Bauarbeiter grinst unterm gelben Helm

Open your eyes. Vor mir steht ein Bauarbeiter in einer Entfernung, aus der eine Schlägerei beginnt oder ein Kuss. Er grinst unterm gelben Helm. Close your eyes. Jeder, den ich anblinzeln darf oder soll, freut sich. Der Parkwächter im Parkhaus, ein schwarzer Mann im blauen T-Shirt, lacht vermutlich jetzt noch. Niemand hält uns auf oder wirft uns hinaus, erstaunlich. Eine Frau sitzt am Schreibtisch, Ende zwanzig, langes Haar, rotblond. Close your eyes. Wir sind mit einem Aufzug zu ihrem Büro gefahren, irgendein Büro. Myriam geht, wohin es ihr einfällt. Es gibt keine feste Runde. Keiner der Besuche ist angekündigt.

Open your eyes. Ein Feuerlöscher am Ende eines Ganges. Open your eyes. Ein Müllcontainer, vollgestopft mit Plastikfolie. Open your Eyes. Die Motorhaube einer Corvette dehnt sich gefühlt von meinen Knien bis nach Heslach. Unter ihr blubbern mindestens 400 PS. Wir stehen auf der Straße. Open your Eyes. Eine Frau sitzt in einem Garten. Sie isst zu Mittag. Open your eyes. Ein Hund interessiert sich für irgendetwas in der Ferne, für uns nicht.

Diese Performance verstört den Geist. Das beweist der letzte Gedanke: Ich hätte geschworen, dass wir nicht länger als eine Viertelstunde unterwegs waren. 50 Minuten lang hat Myriam mich an der Hand geführt, im Viereck herum, im Zickzack, hinauf, hinab. Sie hat meinen Kopf gedreht, meine Schultern gezupft, meinen Rücken geschoben, an meinem Ellbogen gezerrt. Wir sind gehastet, als fürchtete Myriam, den letzten Bus zu verpassen. Wir sind geschlichen, als hätte sie entschieden, ebenfalls die Augen zu schließen. Mein Zeitgefühl hat derweil in einem der Straßencafés gedöst, in dem vielleicht ein Mann Cordon bleu bestellt hat.

Der erste Gedanke war: So fühlt sich Günter, mein Nachbar, der blind geboren wurde, der sich von mir führen lässt, wenn wir ein Bier trinken gehen oder zum Essen. Das ist selbstverständlich Unsinn. Günter nimmt den flackernden Wechsel von Schlagschatten zu Sonnenlicht nicht wahr, das als rotes Gleißen ins Gehirn dringt.

Diese Performance spitzt die Sinne

Allein der Wechsel reicht, um den Gleichgewichtssinn ins Wanken zu bringen. Günter fühlt durch Schuhsohlen, ob er auf Fliesen oder Parkett steht. Der Gehweg unter meinen Sohlen fühlt sich so uneben an, als würden wir auf Waldwegen stapfen. Günter hört, wie groß ein Raum ist. Die Baumaschine, neben der Myriam mich stehen lässt, grollt in meinem Gehirn wie eine Gerölllawine im Moment des Einschlags. Fußgänger kommen entgegen. Autos dröhnen. Außer vor Stufen warnt Myriam vor nichts. Sie lässt mich mit der Brust gegen Metall laufen. Sackgasse. Open your eyes. Ein Gartentor, hinter dem ein Hausbesitzer seinen privaten Fleck Rasen eingesperrt hat.

50 Minuten sind lang genug, um die Sinne zu spitzen, die der Stadtmensch abschaltet, damit sein Hirn nicht durchbrennt im Dauerfeuer der Wahrnehmung. Ein Teppich riecht muffig, eine Sitzreihe nach Leder. Drei Frauen sprechen italienisch, irgendwo voraus, zwei andere englisch, die links vorbeilaufen. Die Absätze der einen klappern, die der anderen nicht. Dort vorn reden eine Frau und ein Mann miteinander, gewiss nicht so laut, dass sie glauben, jeder könne mithören. Sie sprechen über Probleme beim Sex. Blätter streifen meine Stirn, es ist Efeu, ich bin so sicher, als würde ich ihn sehen. Der Untergrund wird weich, Sand liegt auf dem Asphalt, er bleibt weich, knirscht jetzt aber. Kies.

Die Tour ist zu Ende. Open your eyes.