Die Initiative Obendrauf wirbt für das Konzept „zwei bezahlen, einen nehmen“. Wer mehr hat, zahlt doppelt. Wer nichts hat, zahlt nichts.
Stuttgart - Der Ort ist ziemlich ungewöhnlich, um sich die Haare schneiden zu lassen. Aber die Frisur sitzt perfekt. Weil die Haare mal wieder einen Schnitt brauchten, hat Andrea Laux unter der Paulinenbrücke Platz genommen. Keine Klatschblätter, aber ein Frisierstuhl, ein Spiegel und eine Friseurin der „Haarschneidemeisterei“ aus Feuerbach – mehr ist nicht notwendig.
Als sie fertig ist, zahlt Andrea Laux 20 Euro. Fünf davon sind eine Spende für die Aktion Obendrauf . Fünf Euro, die dazu beitragen, dass jemand, der selbst nicht genug Geld besitzt, sich später ebenfalls die Haare schneiden lassen kann. „Ich finde es toll, dass ich auf diese Weise helfen kann“, sagt Laux und erzählt, dass vor ihr ein amerikanischer Tourist beim Friseur an der Reihe war, der ganz zufällig vorbeigekommen ist nd von der Aktion begeistert war.
Ursprünglich stammt das Konzept aus neapolitanischen Caféhäusern
Obendrauf gibt es in Stuttgart seit fünf Jahren. Das Konzept „zwei bezahlen, einen nehmen“ kam ursprünglich aus neapolitanischen Caféhäusern und verbreitete sich dort über die ganze Welt. Was in Cafés angefangen hat, funktioniert auch im Restaurant, im Hundeladen, im Buchhandel, im Theater, im Schuhgeschäft. Eben überall dort, wo Menschen mit etwas mehr Geld sich im Klaren darüber sind, dass es andere gibt, die weniger haben: Man kauft etwas und legt ein wenig – es muss nicht das Doppelte sein – „obendrauf“ für den Nächsten, der es sich eigentlich nicht leisten kann: den Kaffee, das Buch, die Eintrittskarte im Theater.
Um das Konzept noch bekannter zu machen, haben die Initiatorinnen von Obendrauf in Stuttgart, Dijana Mandaglio und Uta Weyrich, am Samstag einen Aktionstag am Österreichischen Platz veranstaltet. „Es geht uns darum, Menschen, die finanziell in Not sind, aus der Isolation zu helfen“, sagt Mandaglio, die kommunalpolitisch bei den Stadtisten aktiv ist. Hier – unter der Paulinenbrücke – sollen die Zusammenkommen, die geben können und die nehmen müssen. Damit jeder weiß, was geboten ist, flattern unter dem Dach der Autobrücke bunte Tafeln, auf denen Symbole abgebildet sind: eine Schere für den Friseur, eine Zeitung oder ein Fotoapparat für das professionelle Porträtfoto, das sich nicht jeder leisten kann.
Es gibt auch viele Hürden
Daphne Neidhardt, Betreiberin des „Hundeladen Stuttgart“ in Heslach, macht schon lange mit bei Obendrauf. Sie hat erlebt, dass manchmal auch Menschen vom Angebot der Vergünstigung Gebrauch machen, die gestern noch selbst gespendet haben und heute selbst bedürftig sind: „So ist es zum Beispiel bei einer Familie, die seit Jahren regelmäßig zu mir kommt“, erzählt Neidhardt. Unter der Paulinenbrücke bietet die Ladenbesitzerin am Samstag eine Tauschbörse für Hunde-Accessoires an.
Die Idee hinter Obendrauf ist bestechend. Doch es gibt auch Hürden: Weniger aufseiten der Spendenwilligen als bei denen, die von dem Angebot profitieren sollen: „Viele trauen sich nicht nachzufragen, ob sie einen Kaffee oder eine Frisur auch umsonst bekommen können“, sagt Dijana Mandaglio.
Aufkleber mit dem Obendrauf-Symbol an den Ladentüren machen zwar deutlich, dass sich der Geschäftsinhaber an der Aktion beteiligt – doch das hilft nicht immer, die Scham zu überwinden. „Deshalb wollen wir heute hier auch zeigen: Ihr seid eingeladen“, sagt Mandaglio, die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern ist. Dass das System ausgenutzt wird, hat Daphne Neidhardt noch nie erlebt. „Die Bonuscard hat bei mir noch nie jemand vorzeigen müssen, um zu beweisen, dass er oder sie bedürftig ist“, sagt die Hundeladenbesitzerin. Sie kenne ihre Kunden sehr genau. Bei Unbekannten könnte sie sich jedoch vorstellen, die Karte zu verlangen.
Rund 20 Geschäfte – von der Eisdiele bis zum Yoga-Studie – beteiligen sich im Stadtgebiet an der Initiative. Jetzt hoffen die Macherinnen, dass der Aktionstag unter dem Motto „Teilen ist das wahre Haben“ dazu beigetragen hat, dass noch viel mehr Ladenbetreiber das Konzept aufgreifen.