Armut betrifft auch in Baden-Württemberg viele Menschen. Vor allem Kinder, Jugendliche und Ältere sind von ihr bedroht. Mit einer Aktionswoche wollen Betroffene und Verbände das Problem ins Blickfeld rücken.

Stuttgart - Als Reinhold Schimkowski bei einer Konferenz in Brüssel von Armut in Deutschland sprach, erntete er nur verständnislose Blicke. Verglichen mit der Situation etwa in Süd- und Südosteuropa scheinen die Verhältnisse in Deutschland geradezu gut, räumt der Landesgeschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt ein. „Doch sagen Sie mal einem Kind, das von Hartz IV lebt und nicht zum Schulausflug mitdarf, oder einer Rentnerin, die ihre Miete nicht mehr bezahlen kann, dass es anderswo noch ärmere Menschen gibt.“ Mit einer Aktionswoche wollen Betroffene und Verbände auf Schieflagen auch im relativ wohlhabenden Südwesten hinweisen und Verbesserungen einfordern.

 

Bundesweit zählt Baden-Württemberg zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen. Dennoch seien rund 1,6 Millionen Menschen im Südwesten von Armut bedroht, sagte Martin Kunzmann, Landesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, am Montag in Stuttgart. Besonders gefährdet sind Arbeitlose, von ihnen haben 44 Prozent weniger als 1055 Euro netto monatlich.

Durchschnittlich 687 Euro für Rentnerinnen

Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des so genannten Medianeinkommens zur Verfügung hat. Das Medianeinkommen teilt die Bevölkerung in zwei gleich große Gruppen: die eine hat mehr, die andere weniger Geld zur Verfügung. 2016 lag dieser bei 1758 Euro netto pro Monat. Als von Armut bedroht gelten damit Menschen mit weniger als 1055 Euro. Aufgrund der unterschiedlichen Einkommensverhältnisse in den Ländern lag der Schwellenwert im Bundesdurchschnitt bei 969 Euro.

Von den Alleinerziehenden sind 38,7 Prozent armutsgefährdet. Grund dafür sei, dass immer mehr Jobs keine regulären Arbeitsverhältnisse mehr seien, sondern Minijobs, Leiharbeit oder oft unfreiwillige Teilzeit, sagte Kunzmann. Seit 2003 hat sich der Anteil der Leiharbeit verdreifacht, der Anteil der Teilzeitstellen ist um über 50 Prozent gestiegen.

Auch die Zahl der über 64-Jährigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, wächst. Seit 2003 hat sie sich beinahe verdoppelt – auf fast 51 700 Personen. Die durchschnittliche Rente für Männer liegt derzeit bei etwa 1200 Euro, Rentnerinnen erhalten im Durchschnitt 687 Euro monatlich. Um gegenzusteuern, müsse die nächste Bundesregierung das Rentenniveau wieder anheben und Minijobs, Leiarbeit und Zwangsteilzeit wieder zurückdrängen, forderte Kunzmann. Damit könnten auch Protestwähler von der AfD zurückgeholt werden.

Geringeres Einkommen, weniger Teilhabe

Geringeres Einkommen heiße auch geringere Teilhabe, sagte Roland Saurer, Sprecher der Landesarmutkonferenz, ein Netzwerk, das die Anliegen von Benachteiligten mehr ins Blickfeld rücken will. Ein erster Schritt war der Armutsbericht, den die Landesregierung vor zwei Jahren vorgestellt hat. Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) hat den Verbänden zugesichert, die landesweite Erhebung weiterzuführen. Wann die nächste Veröffentlichung folgt, steht aber noch nicht fest. Ungleichheit gefährde die Demokratie, sagte der ehemalige Leiter einer Einrichtung für Wohnungslose.

Ein Schlüssel gegen Armut ist aus Sicht der Veranstalter die Bildung. Die Ganztagsangebote in Kindergärten und Schulen müssten ausgebaut werden, um den Teufelskreis Armut zu durchbrechen. Armut bedeute weniger Bildung, schlechtere Aufstiegschancen. Vereinzelt würden junge Hartz-IV-Empfänger von Jobcentern aufgefordert, nach der mittleren Reife die Schule zu verlassen und mit einer Ausbildung zu beginnen, berichtete York Töllner, Gründungsmitglied der Landesarmutkonferenz.

Mehr Vollzeitjobs und gleichwertige Bezahlung

Mit einer Reihe von Veranstaltungen in mehreren Städten soll das Thema beleuchtet werden. So treffen sich am Mittwoch in Bregenz Vertreter aus Österreich, der Schweiz und Frankreich, um über gemeinsame Strategien gegen Armut zu beraten.

SPD-Generalsekretärin Luisa Boos warf der grün-schwarzen Landesregierung vor, sie blende das Thema völlig aus. „Wenn fast 1,6 Millionen Menschen in Baden-Württemberg von Armut bedroht sind, dann stimmt das Mantra einfach nicht, dass es hier allen gut geht.“

Auch die Nationale Armutskonferenz in Berlin hat am Montag mehr Unterstützung durch die Politik gefordert. Nötig seien mehr Vollzeitjobs für Frauen und gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit. Der Einsatz für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige dürfe nicht länger zu einem Armutsrisiko führen.