Beim Kampf gegen Krebs setzen immer mehr Patienten neben Chemo- und Strahlentherapie auch auf naturheilkundliche Verfahren. Krankenhäuser wie das Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart reagieren darauf – und bieten Begleitprogramme an.

Stuttgart - Der Check-up beginnt quasi an den Haarwurzeln. Wie fühlt es sich am Scheitel an? Drückt etwas, kribbelt es, oder ist da einfach nichts? Was ist in der Nackenregion? In der Brust? In Armen und Beinen? Lieber noch einmal in sich hineinhorchen. Beim sogenannten Body-Scan ist jeder sein eigener Arzt: Eine halbe Stunde lang geht man mit gezielter Aufmerksamkeit den gesamten Körper mental durch – von Kopf bis Fuß. Sich einfach mal spüren, das ist das Ziel dieser Übung, die von dem amerikanischen Stressforscher Jon Kabat-Zinn entwickelt wurde. Und sich zu akzeptieren – sich und seinen kranken Körper.

 

Die heftigen Nebenwirkungen der Krebstherapie sollen gemindert werden

Regelmäßig führt Ralf Reißmann diese Achtsamkeitsübung mit Krebspatienten des Robert-Bosch-Krankenhauses (RBK) in Stuttgart durch. „Als Teil der inneren Heilung“, wie der Therapeut sagt. Dazu dienen auch andere Bausteine, die Therapeuten und Ärzte des Krankenhauses zu einem naturheilkundlichen Programm für Patienten mit Tumorerkrankungen zusammengestellt haben: mit pflegerischen Anwendungen wie Kneipp’schen Wickeln, Bewegungsübungen aus dem Qigong, Yoga und Entspannungsverfahren. Auch Akupunktur und eine Ernährungsumstellung sind wichtig. Letztlich, so sieht es das Konzept vor, werden so die teils heftigen Nebenwirkungen der schulmedizinischen Behandlung – darunter Tumoroperationen, Chemo- und Hormontherapie und Bestrahlung – gemindert und die Lebensqualität der Patienten verbessert.

Seit Ende 2015 gibt es dieses Programm auch im Bosch-Krankenhaus, das eigentlich aus den USA stammt. Dort, am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York, wendet man das wissenschaftlich geprüfte integrativ-onkologisches Konzept schon seit Jahren an. Dabei ist die grundsätzliche Idee, mit naturheilkundlichen Mitteln die schulmedizinische Krebstherapie zu unterstützen, nicht neu: Vor allem in den anthroposophisch geführten Krankenhäusern wie in der Filderklinik (Landkreis Esslingen) ist die Naturheilkunde längst Teil des Behandlungskonzepts. Auch in anderen Kliniken, wie dem Klinikum Stuttgart, hat sich eine naturheilkundliche Sprechstunde etabliert.

Die Wirkung von Akupunktur und Yoga sind anerkannt

Dass sich mehr und mehr einst rein schulmedizinische Einrichtungen für die Naturheilkunde öffnen, kann als Reaktion darauf verstanden werden, dass sich immer mehr Menschen von der Standardmedizin nicht ausreichend versorgt fühlen: Umfragen zufolge wenden 70 Prozent aller Krebspatienten alternative Heilmethoden etwa als ergänzende Maßnahme zu ihrer Therapie an – oft aus dem Wunsch heraus, für ihr Befinden auch selbst etwas zu tun. Wobei „irgendetwas zu tun“ nicht unbedingt der richtige Weg ist, wie Experten vom Institut für wissenschaftliche Evaluation naturheilkundlicher Verfahren an der Uni zu Köln. Ihrer Meinung nach sind rund 90 Prozent aller naturheilkundlichen Maßnahmen nicht sorgfältig genug auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit überprüft. Dennoch bleibt da ein gewisser Rest hilfreicher Verfahren, denen sich selbst die Schulmedizin nicht ganz verschließen kann: So heißt es beim Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungsinstituts in Heidelberg etwa, dass Akupunktur „möglicherweise Erbrechen und Übelkeit während einer Chemotherapie lindern“ könne. Und dass Yoga oder Qigong gegen Erschöpfungszustände – das sogenannte Fatigue-Syndrom – durchaus entlastend wirke.

Keine Homöopathie, nur wissenschaftlich erwiesene Praktiken

Marcela Winkler kennt diese Studien. Als leitende Ärztin der Abteilung Naturheilkunde und Integrative Medizin im RBK ist es ihre Aufgabe, die Methoden zu prüfen, die als Komplementärmedizin – also als Ergänzung zur Standardtherapie – angeboten werden. „Wir wenden an, was wissenschaftlich belegt ist.“ Und dies auch nur, wenn klar gestellt wurde, dass der Patient dies auch verträgt. „Nur weil etwas natürlich ist, ist es nicht automatisch harmlos“, so Winkler.

Keine Esoterik also und auch keine Homöopathie. Selbst der Body-Scan hat seine wissenschaftliche Berechtigung: Er ist Teil der sogenannten Mind-Body-Medizin, die – so erklärt es Winkler – die Selbstregulation des Menschen stabilisieren soll, um die medizinisch notwendige Behandlung positiv zu begleiten. „So haben Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass die Achtsamkeitsübung bei der Stressbewältigung hilft und die Lebensqualität fördert.“

Mit Leberwickel gegen den Stress

Teils hilft auch die Erfahrung mit altbekannten Methoden: Im Ruheraum lässt sich ein 55-jähriger Ingenieur zeigen, wie man einen Leberwickel anlegt. Nach einer Hodgkin-Krebserkrankung hat er angefangen, wieder zu arbeiten. Doch die Nachwirkungen der Therapie in Kombination mit den Anforderungen im Büro schlagen ihm auf den Magen. „Teils ist es so schlimm, dass ich vor Meetings nichts esse“, sagt er. Täglich ein Wickel aus dem Kneipp’schen Lehrbuch soll den Krämpfen vorbeugen.

Krebspatienten leiden häufig unter Dauerstress, sagt Walter Erich Aulitzky, Chefarzt der Abteilung Onkologie, Hämatologie und Palliativmedizin am RBK. Besonders, wenn sie mitten in der Behandlung sind. „Ihnen gelingt es nicht, im Hier und Jetzt zu sein.“, so Aulitzky. Stattdessen laufe das Gedankenkarussell auf Hochtouren. Die Mind-Body-Medizin könne Patienten den Umgang mit der Krankheit und dem Körper wieder lehren. „Viele Patienten sagen: Mir geht’s gut“, sagt Marcela Winkler. Doch der Körper sagt das Gegenteil: Nämlich Muskelverspannungen, erhöhter Blutdruck und Herzrasen. Es ist dann Aufgabe der Therapeuten, diese Ambivalenz auszugleichen und den Patienten dazu bringen, über den Zusammenhang zwischen nervlicher Belastung und ihrem Gesundheitszustand nachzudenken.

Das komplexe Zusammenspiel von Körper und Psyche begreifen

Im hellgrün gestrichenen Behandlungszimmer der naturheilkundlichen Abteilung sitzt derweil die Stuttgarterin Susanne und erzählt, dass es ein Weilchen gedauert habe, bis es im Kopf klick gemacht hat. Vor zwei Jahren war bei der Unternehmerin Brustkrebs festgestellt worden. Als sie im RBK gefragt wurde, ob sie beim naturheilkundlichen Programm mitmachen wolle, hat sie Ja gesagt. „Ich habe schon immer meditiert und war dafür offen.“ Doch auch sie musste sich erst zurechtfinden im komplexen Zusammenspiel von Körper und Psyche. „Ich war immer eine Macherin. Gab’s Probleme, war für mich klar: Die müssen gelöst werden.“ Überstunden und Arbeit mit nach Hause nehmen, das war für die 57-Jährige normal. Mit dem Krebs kam ein Umdenken. „Ich musste erst wieder lernen, mich wichtig zu nehmen – ohne mich unersetzlich zu fühlen.“