In der Ukraine ist Europas größtes Atomkraftwerk unter Beschuss geraten. Weltweit sind solche Anlagen gegen viele Gefahren gewappnet. In einem Krieg drohen jedoch weitere, schwer kalkulierbare Risiken.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Am Ufer des Dnjepr in Saporischschja im Südosten der Ukraine stehen sechs gewaltige Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart. Das Kraftwerk Saporischschja, eines von vieren in der Ukraine, wurde in den 1980er Jahren erbaut und ist mit einer Leistung von 6.000 Megawatt das größte in Europa. Die Anlage ist für einen Großteil der Stromgewinnung in der Ukraine verantwortlich.

 

Vor dem Krieg wohnten in der Region mehr als 700 000 Menschen. Direkt am Atomkraftwerk liegt die Stadt Enerhodar, die vor dem russischen Überfall auf das Nachbarland mehr als 50 000 Einwohner hatte.

Wie kann die Internationale Atomenergiebehörde helfen?

Russland und die Ukraine haben wiederholt davor gewarnt, dass eine mögliche Atomkatastrophe viel schlimmer werden könnte als die des 1986 havarierten AKW Tschernobyl. Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA, International Atomic Energy Agency) wollen noch in dieser Woche das AKW inspizieren. Das schrieb IAEA-Chef Rafael Grossi am Montagmorgen (29. August) bei Twitter.

„Ich bin stolz darauf, diese Mission zu leiten, die im Laufe dieser Woche im Kernkraftwerk sein wird“, schrieb er und veröffentlichte ein Foto des 14-köpfigen Teams. Der Tag sei gekommen, die Unterstützungs- und Hilfsmission nach Saporischschja sei nun auf dem Weg. „Wir müssen die Sicherheit der größten Nuklearanlage der Ukraine und Europas schützen.“

Was kann passieren, wenn einer der Reaktoren angegriffen wird?

„Grundsätzlich sind militärische Angriffe nicht Teil des Designs von Kernkraftwerken“, sagt Risikoforscher Nikolaus Müllner von der Universität für Bodenkultur in Wien. Kernkraftwerke seien so gebaut, dass sie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürzen oder Terrorattacken standhalten können. Schutz gegen gezielte militärische Zerstörung sei kaum möglich.

Saporischschja ist durch einen getrennten Kühlkreislauf und eine besondere Schutzschicht besser geschützt als die zwei Unfall-AKW Tschernobyl (Ukraine) und Fukushima (Japan). Ein Beschuss der Anlage müsse also nicht zwangsläufig zu einem kerntechnischen Unfall führen, sagt Atomtechnik-Experte Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). „Damit es zu einem solchen Unfall kommt, muss das Kühlsystem beschädigt sein.“

Die sicherheitstechnisch wichtigen Anlagen in der Ukraine seien in geschützten Gebäuden untergebracht, so Stransky weiter. „Sie würden einem Beschuss durchaus standhalten können. Das hängt allerdings auch von der Schwere des Beschusses ab.“ Der Reaktor selbst werde von einer Stahlbetonhülle geschützt, der einen Absturz eines kleinen Flugzeugs aushalten könne.

Welche Folgen hätte ein Stromausfall?

„Selbst wenn er beschädigt ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es zu einem kerntechnischen Unfall kommt“, erklärt Stransky. Erst wenn dauerhaft der Strom ausfallen und das gesicherte Kühlwassersystem versagen würde und auch sämtliche Notstromaggregate ausfallen würden, würde es letzten Endes zu einem Ausfall der Nachkühlung kommen. Dies könne zu einer Kernschmelze führen.

Die Zerstörung der externen Stromversorgung der Anlage könnte laut Müllner im schlimmsten Fall zu einer Kernschmelze führen. Falls die Notfallgeneratoren vor Ort intakt bleiben, lassen sich die Reaktoren noch einige Tage weiterkühlen. Wenn auch diese Aggregate oder die Dieselvorräte für ihren Betrieb zerstört werden, bleiben laut Müllner maximal 15 Stunden bis zum Atomunfall.

Welche weitere technischen Gefahren können auftreten?

Eine weitere Gefahr drohe durch Beschädigung von Dampfleitungen. Auch in diesem Fall sei das Kühlsystem in Gefahr. Die IAEA warnt außerdem davor, dass Sicherheitssysteme des AKW zerstört werden könnten und dass Einsatzpläne für den Fall eines Atomunfalls im Gefecht nicht mehr greifen. Seit dem Beschuss sind in Saporischschja bereits einige Strahlenmessgeräte defekt.

Wie groß ist die atomare Gefahr durch die Zwischenlager?

Auf dem Kraftwerksgelände gibt es auch noch ein Zwischenlager. Derzeit lagern auf dem Werksgelände rund 40 Tonnen angereichertes Uran und 30 Tonnen Plutonium.

Dem ukrainischen Betreiber Enerhoatom zufolge befinden sich unter freiem Himmel zudem 174 Container mit jeweils 24 abgebrannten Brennelementen. Direkte Artillerietreffer könnten demnach so etwas wie eine „schmutzige Atombombe“ erzeugen.

Was würde im Fall einer Kernschmelze passieren?

Der schlimmste Fall tritt ein, wenn einer der Reaktorblöcke zerstört wird oder es aufgrund eines mehrfachen Stromausfalls zu einer Kernschmelze kommt. Versagen die Generatoren, würden die Brennstäbe bereits nach 90 Minuten gefährlich hohe Temperaturen erreichen – samt Kernschmelze.

Normalerweise erzeugen die Brennstäbe Hitze, welche von einem ersten Wasserkreislauf im Reaktor aufgenommen wird. Über Rohre wird die Wärme in einen zweiten Wasserkreislauf abgeleitet, es wird Dampf erzeugt. Dieser treibt eine Turbine an, die wiederum den Strom erzeugt. Auch Reaktoren, die nicht aktiv Strom erzeugen, müssen weiter gekühlt werden.

Kommt es zur Kernschmelze, kommt das Kühlwasser nicht in Kontakt zur Außenwelt – eigentlich. Denn bricht die Stromversorgung des AKW zusammen, und damit auch die Kühlversorgung, entsteht im Reaktor ein Überdruck. Kann dieser nicht über Ventile abgelassen werden, könnten die Reaktoren zerstört werden.

Welche radioaktiven Stoffe würden freigesetzt?

Wolfgang Raskob vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) geht davon aus, dass im Falle eines größeren Atom-Unfalls wohl dieselben Stoffe freigesetzt würden wie einst 1986 in Tschernobyl. Einige radioaktive Formen dieser Stoffe – etwa von Cäsium, Strontium und Iod - oder deren Verbindungen sind neben der Strahlengefahr auch noch giftig.

Was wären die Folgen einer radioaktiven Verseuchung?

Das hätte vor allem verheerende Folgen für die Ukraine. Aber auch anliegende Nachbarländer wie Belarus, Polen, die baltischen Staaten, Moldawien, Rumänien, Bulgarien und auch Russland könnten unter der austretenden Strahlung leiden.

Experten gehen davon aus, dass in diesem Fall das Land in einigen hundert Kilometern Umkreis unbewohnbar werden würde. Die Ausdehnung hängt auch von der Windrichtung ab – bei dem häufig herrschendem Ostwind könnte die Radioaktivität nach Russland und Kasachstan getragen werden, bei anderer Windrichtung wäre auch ein Herüberwehen nach Mittel- und Westeuropa möglich.