Die EU-Kommission rät auch der Bundesrepublik, ihre Kernkraftwerke nachzurüsten. Doch insgesamt schneiden die deutschen AKWs in einem europaweiten Stresstest besser ab als etwa die französischen.

Brüssel - Im Gegensatz zu den jahrelangen Beteuerungen der Kraftwerksbetreiber wird in Deutschland und Europa noch nicht alles Menschenmögliche getan, um die Sicherheit von Atomkraftwerken zu garantieren. Das ist das Ergebnis eines europaweiten Stresstests, den die EU-Kommission am Donnerstag in Brüssel vorgestellt hat. Für praktisch alle untersuchten 145 Reaktoren werden sicherheitsrelevante Empfehlungen abgegeben. „Die Sicherheitssituation in Europa ist auf gutem Niveau, zufriedenstellend“, sagte Energiekommissar Günther Oettinger bei der Vorstellung des umfassenden Berichts, weshalb auch „kein Kraftwerk aus Sicherheitsgründen unmittelbar abgeschaltet werden muss. Allerdings gibt es nahezu überall erhebliche Verbesserungspotenziale.“

 

Die gibt es auch in der Bundesrepublik. So sehen die Inspektoren, die – erstmals überhaupt – nicht nur von der jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörde kamen, sondern als gemischte EU-Teams anrückten, Mängel vor allem bei den norddeutschen Meilern. Dort sind drei Anforderungen nicht erfüllt: Erstens liegt die Gebäudestabilität unter dem empfohlenen Grenzwert. Zweitens sollen Messinstrumente zur Warnung vor Erdbeben auch auf dem Kraftwerksgelände selbst und nicht nur außerhalb existieren. Und drittens umfassen die Notfallpläne nicht alle Bereiche eines Kraftwerks. Von den sechs betroffenen Anlagen sind allerdings nur noch die Meiler Brokdorf, Emsland und Grohnde aktiv.

Eine Notfallplanung hätte es schon nach Tschernobyl gebraucht

Als besonders enttäuschend wertete Oettinger, dass eine umfassende Notfallplanung nicht erst seit dem GAU von Fukushima, sondern bereits nach der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl hätte umgesetzt werden müssen. „Wir mahnen an, das nachzuholen, was seit Jahren und Jahrzehnten möglich war“, so Oettinger weiter.

Der von ihm nach Fukushima angeregte Stresstest zeigt nun, dass bei der Analyse der Erdbebengefahr nur bei 54 von 145 Reaktoren aktuelle Standards zur Anwendung kommen. Hinsichtlich einer möglichen Überflutung, die in Japan zu Stromausfall und Überhitzung der Kernbrennstäbe führte, gilt immerhin in 62 Fällen die beste Norm. Die seismischen Messinstrumente fehlen oder genügen nicht nur in Deutschland nicht den Ansprüchen, sondern in 121 Meilern. Oft wird auch die Ausrüstung, die nach schweren Pannen nötig ist, nicht in Bunkern gelagert, um sie vor der Zerstörung zu schützen. 24 Reaktoren fehlt ein Ersatzkontrollraum.

Relativ gesehen schneidet Deutschland aber besser ab als beispielsweise Frankreich, dessen nationalen Aufsehern deutlich mehr Empfehlungen gegeben werden – etwa hinsichtlich eines autonomen Stromkreislaufs für den Notfall. „Deutschlands direkten Nachbarstaaten wird kein gutes Zeugnis ausgestellt“, fasste der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange zusammen, der daher zusammen mit Grünen-Politikern und Umweltschützern für einen europaweiten Ausstieg plädierte.

In der EU-Kommission hieß es dagegen, die Zahl der Empfehlungen und Kreuze auf der Mängelliste dürften nicht „missinterpretiert“ werden, daraus könnten keine Vergleiche abgeleitet werden. Oettinger, der den Bürgern versprochen hatte, sie würden nachschauen können, wie es um die Sicherheit einzelner Kernkraftwerke bestellt sei, räumte ein, dass man bei AKWs nicht mit den Ampelfarben Rot, Gelb und Grün operiere. Doch biete man „erstmals eine europäische Gesamtschau“, so Oettinger, die in den kommenden Monaten von den europäischen, nationalen und regionalen Institutionen noch nachbereitet werde.

Die nationalen Prüfer wollen Aktionspläne ausarbeiten

Die nationalen Aufseher haben sich verpflichtet, bis Jahresende Aktionspläne vorzulegen, in denen dargelegt werden soll, wann und wie die nötigen Nachrüstungen erfolgen sollen. Die Kosten dafür schätzt Brüssel auf 30 bis 200 Millionen Euro pro Reaktor, was zu einem Gesamtbedarf von mindestens zehn Milliarden Euro führt. Dies soll in zwei Wochen auch Thema des nächsten EU-Gipfels werden, der den Stresstest im März 2011 beschlossen hatte.

Oettinger will nach den neuen Erkenntnissen im Frühjahr eine überarbeitete Sicherheitsrichtlinie vorlegen. Diese soll ihm zufolge einheitliche Standards, mehr europäische Kontrollbefugnisse sowie eine Pflicht für Unternehmen enthalten, sich gegen solche Katastrophen zu versichern.