Alain Claude Sulzers „Postskriptum“ ist ein bewegender Künstlerroman. Er spielt in düsterer Zeit und führt an den Abgrund zwischen Politik und Gefühl.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wie kann man sich von den traumatischen Ereignissen der Vergangenheit befreien? Nicht, indem man sie verdrängt, sondern indem man sie immer aufs Neue wiederholt. Diese Maxime bestimmt nicht nur die Seelenkunst jenes jungen Nervenarztes, der in einer Nebenszene von Alain Claude Sulzers neuem Roman „Postskriptum“ seinen Auftritt hat. Ein gewisser Freud, mit dem man Dinge erörtern konnte, die nicht für das Gehör feiner Damen bestimmt waren. Der Vater von Sulzers Romanheld Lionel Kupfer war mit ihm befreundet. Mag die Maxime der rettenden Wiederholung auf dem Gebiet der therapeutischen Praxis umstritten sein, so gilt sie unumschränkt auf literarischem Terrain für die Fülle an Romanen, die in eine Zeit zurückführen, die 1933 beginnt. Es sind Nachschriften unerträglicher Ereignisse, die durch die Wiederholung erst Gestalt gewinnen. Schrecken und ästhetisches Spiel gehören zusammen. Im Leben des gefeierten Schauspielers Kupfer verhalten sie sich zueinander wie Prolog und Postskriptum.

 

Es ist die große Kunst dieses Romans, alles Bedeutsame aus dem schillernden Spiel zwischen Vorher und Nachher abzuleiten. Im Prolog ertrinkt der geliebte Bruder während des kindlichen Versteckspiels. Wie sich zeigen wird, begründet jene Urszene des Verlusts das mimische Talent, das Lionel Kupfer zu einem der gefeierten Ufa-Stars machen wird. Zum Vorher gehört aber auch jenes letzte Wochenende im Januar 1933, an dem Hitler noch nicht an der Macht war. Wir begegnen Kupfer hier in dem noblen durch Nietzsches Aufenthalt geadelten Hotel Waldhaus im schweizerischen Sils Maria, wohin er sich zurückgezogen hat, um sich vom Studium seiner Rollen und der aufwühlenden Beziehung zu seinem 15 Jahre jüngeren unberechenbaren Geliebten zu erholen.

Verrückt vor Schmerz

Kupfer, der aus einer jüdischen Familie stammt, steht im Zenit seiner Karriere. Es gibt Menschen, die ihn wie einen Gott verehren. Einer von ihnen ist der aus ärmsten Verhältnissen stammende Postbeamte des Örtchens, Walter Staufer, der es in einem Akt der Selbstüberhebung schafft, in seine Nähe zu gelangen und eine Rolle in seinem Liebesleben zu ergattern: für Kupfer nur eine von vielen Nebenrollen, für Staufer aber der Auftritt seines Lebens.

Bereits in seinem Roman „Der perfekte Kellner“ hat Sulzer in räumlich wie zeitlich ähnlich gelagertem Ambiente das kurze Glück und lange Leiden eines alternden homosexuellen Hotelbediensteten geschildert. Hier ist die flüchtige Liaison nur ein zarter Faden in einem Gespinst vieler verwickelter Gefühle, ein Faden der durch die Ankunft von Kupfers eigentlichem Geliebten Eduard schroff abgerissen wird. Zwei Sätze genügen, um die große Passion des kleinen Postlers zu fassen: „Der Schmerz, der ihn gepackt hatte, ging tiefer als alle Schmerzen, die er zuvor empfunden haben mochte. Er glaubte, verrückt zu werden.“

Eduard, ein windiger Kunsthändler, der sich mit den nationalsozialistischen Machthabern eingelassen hat, um für sie „in Wohnzimmern verschollene Werke“ einzutreiben, sprich, sie ihren jüdischen Besitzern zu rauben, überbringt Kupfer die Nachricht, dass er wegen seiner Herkunft in Ungnade gefallen sei.

Abglanz von Liebe und Schrecken

Wir treffen den gefallenen Ufa-Star wieder nach dem Krieg in New York. Eine lebende Legende, an die sich in Amerika freilich kaum jemand erinnert. Europa liegt in Trümmern, ebenso seine große Liebe. Eduard hat sich verzockt und wurde bei einer seiner Kunstverschiebeaktionen erschossen. Die Affäre mit dem kleinen Postbeamten glänzt nur mehr als blasse Erinnerung durch die Fenster der Vergangenheit, die sich Kupfer in der neuen Heimat öffnen.

Doch dass das Leben nur im Abglanz zu haben sei, ist bei Sulzer keine resignative These, sondern konsequentes Gestaltungsprinzip. Der Abglanz ist das Licht, in dem auch jene Figuren zum Leben erwachen, die sonst im Schatten stehen. Theres etwa, die bedingungslos liebende Mutter Walter Staufers, die sich als alleinerziehende Analphabetin durchs Leben schlägt, ihrem schwulen Sohn, der sich nach Höherem sehnt, immer weniger folgen kann und ihm doch bis zuletzt die Treue hält.

Spiel des Verlusts

Im Abglanz wird auch das Übermaß des Schreckens fassbar, das die nicht erzählte Frist zwischen Vor- und Nachgeschichte füllt. Im Kino sieht Walters Mutter nach dem Krieg in der Wochenschau lebende Skelette in gestreiften Sträflingskleidern vor Stacheldrahtzäunen: „Sie waren nicht tot, aber sie wirkten auch nicht lebendig. Es gab auch Tote. Es gab Berge von toten Juden. Theres erstickte beinahe, so lange atmete sie nicht aus. Sie vergaß den Anblick nicht, wie hätte sie ihn je vergessen können.“ Am Ende, spät, zu spät, als Postskriptum seiner Karriere, wendet sich für Kupfer noch einmal das Blatt. Als Altersdarsteller kehrt der Erfolg zurück. Und mit ihm die Erinnerung an seinen vielleicht bedingungslosesten Verehrer, den Postbeamten aus Sils Maria. Im Postskriptum eines Briefs, der Staufer vermutlich nie erreicht haben wird, gesteht er ihm das Trauma seiner Jugend, den Tod des Bruders – und den Zwang, diesen immer wieder nachzuspielen. Aus dem Verlust hat er ein Spiel gemacht, ein Spiel, das seine Rettung war.

Einen Roman auf einem Postskriptum aufzubauen ist ein kühnes Unterfangen. Das Wesentliche wird damit außerhalb des Erzählzusammenhangs gerückt. Dem entspricht im Leben der Figuren, dass sich der Sinn immer erst im Nachhinein enthüllt, wenn die Situationen, die er erfüllen könnte, längst vergangen sind. Doch Literatur ist ein sonderbares Glücksspiel, bei dem der Leser auch dann gewinnt, wenn die Gestalten, auf die er setzt, verlieren. PS: Nirgends wird Leiden so reichlich mit dem Glück des Lesens vergolten wie bei Sulzer.