Unter „Antischlager“ versteht Kaltenkirchen nicht das Neo-Feelgood einer Helene Fischer. Stattdessen aktualisiert der Stuttgarter Musiker den schlageresken Deutschpop aus der Zeit von Falco, Nena, Klaus Lage und anderen. Kann das gut gehen?

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Deutschsprachige Popmusik kann man schon immer peinlich finden. Peinlichfinder und Feuilletonisten verurteilen eingängige Melodien sowie Produktionen, die in der absoluten Mitte des musikalischen Mainstreams mitschwimmen: Igitt, Schlager!

 

So gesehen ist dem Stuttgarter Musiker Philip Stoeckenius alias Kaltenkirchen mit seinem selbst ausgedachten Genre „Antischlager“ der erste Coup gelungen: Da hat jeder einen Sound im Ohr, dazu hat jeder eine Meinung. Schon mit seinen ersten Songs, die er meisterhaft in den einschlägigen Streamingdiensten und Hipsterblogs platziert hat, ging diese Rechnung auf. Eine Kooperation mit Drangsal hat ihn einem größeren Publikum erschlossen. Jetzt folgt das Debütalbum „Im Namen der Liebe“, es erscheint diesen Freitag auf Vinyl. Der Schlager-Feind, den der junge Mann da liebevoll umarmt, ist freilich nicht der Sound von Drafi Deutscher oder Udo Jürgens. Das hat auch nichts mit dem Neo-Feelgood einer Helene Fischer zu tun.

Lebensfreude und Erweckungserlebnisse

Stattdessen sind wir irgendwo in den frühen bis mittleren Achtzigern, als Künstler wie Falco, Herbert Grönemeyer, Klaus Lage, Purple Schulz oder Münchner Freiheit unter großen Mühen an den zeitgenössischen Produktionen aus den USA oder Großbritannien mitzuhalten versuchten. Der Sound dieser Zeit klang ganz neu, war synthetisch und verhallt. Die Inhalte der Songs bewegten sich zwischen manischer Lebensfreude, Präperestroika und jugendlichen Erweckungserlebnissen im BRD-Alltag: „1000 und 1 Nacht“, „Ohne Dich (Schlaf’ ich heut Nacht nicht ein)“, „Männer“, „Amadeus“ und so weiter.

Kaltenkirchen zieht diese Musik in die Jetztzeit, aktualisiert sie behutsam – und profitiert davon, dass die emotionalen Bedürfnisse gar nicht so andere sind als damals. Im Kern reproduzieren selbst gefeierte Rapper wie RIN oder Yung Hurn genau diesen Sound. Drums, Stimme, Gitarren werden durch tausend Effektgeräte (einschließlich Autotune) geschleift, mit dem Arpeggiator schwappen Endorphinwellen über synthetische Klangflächen. Mit großem Knall werden Refrains angetriggert, in denen sich Kaltenkirchens Gesang überschlägt, gefolgt von mit größtmöglichem Applomb rausgehauenen Keyboard- oder Gitarrensoli. Herrlich!

Techno zum Abschluss

Das Allerschönste: Philip Stoeckenius findet darüber die richtigen Worte, jedenfalls geht seinen Texten diese Naivität ab, wegen derer man den deutschen Pop so oft mit Recht verlacht. Das bisschen Pathos lässt man ihm durchgehen: „Und die Zynik lässt dich immer tiefer fallen und vernebelt den Verstand / Denn du hast dich im Verharren und im Trinken in der Nichtigkeit verrannt / Doch nicht nur du / Phase Null“.

Zwar ist im Pop am Ende immer alles künstlich und kalkuliert. Aber die Songs auf diesem Album funktionieren so gut, dass man Kaltenkirchen diese Musik abnimmt. Der macht das nicht nur, weil alle es lustig finden, dass sie jetzt mal Schlager hören. Kaltenkirchen meint das so. Weil die Zeiten so sind, dass diese Musik jetzt gut passt.

Das Album schließt mit „Demonstration“, einem Instrumentaltrack im Stile der Hochphase von Techno und Rave in den ersten Loveparade-Jahren – quasi der heute ebenfalls leicht ironisch verklärte Schlager der Neunzigerjahre. Bis zuletzt vermischt Kaltenkirchen mit großer Lust Provokation und Witz mit pophistorischer Montage – ein grandioser Schlussakkord hart am Rande des Trash, und doch wie das gesamte Album auf der guten Seite der Popmusik.