Ein langjähriges Projekt des Schwäbischen Albvereins hilft Menschen mit einem Handicap, weiterhin ihrer Leidenschaft nachzugehen. Zurzeit laufen Aktionswochen, in denen für das inklusive und integrative Angebot geworben wird.

Kirchheim - Beim Wandern kann Erika Schwaiger so manchem jüngeren Semester etwas vormachen. Mit ihren 76 Jahren ist sie überaus gut zu Fuß. Nur die Augen wollen nicht mehr so recht mitmachen, sie ist stark sehbehindert. Auf ihre Leidenschaft, per pedes durch die Stadt, über Land und durch die Wälder zu streichen muss sie dennoch nicht verzichten. „Lust am Wandern“, ein Projekt des Schwäbischen Albvereins, macht es der rüstigen Rentnerin möglich, sich dank geschulter Begleitung trotz ihres Handicaps an der Bewegung erfreuen zu können. Die Initiative ermöglicht seit etwa fünf Jahren Menschen mit körperlichen, kognitiven und demenziellen Beeinträchtigungen, ihrer geliebten Freizeitaktivität weiter nachzukommen.

 

Amüsant, kurzweilig und mitunter spitzzüngig

An diesem Mittwoch ist Erika Schwaiger mit 17 gehandicapten und nicht gehandicapten Wanderkameradinnen und -kameraden bei der Stadtführung mit dem SPD-Landtagsabgeordneten und -Stadtrat Andreas Kenner in Kirchheim unterwegs. „Der macht’s super. Er isch halt an alter Kirchheimer“, raunt eine Teilnehmerin ihrer Nebenfrau zu. Tatsächlich ist der Politiker wie geschaffen für diese Führung anlässlich der Aktionswochen „Lust am Wandern“, in deren Rahmen in verschiedenen Ortsgruppen des Schwäbischen Albvereins dieses inklusive Angebot beworben wird. Als nebenberuflicher Stadtführer kennt er seine Heimatstadt Kirchheim und deren Geschichte wie seine Westentasche. Zudem hat er jahrelange berufliche Erfahrung in der Altenhilfe. Dass er zudem äußerst amüsant, kurzweilig und bisweilen auch spitzzüngig über Kirchheims Vergangenheit und Gegenwart plaudern kann, kommt bei den Teilnehmern gut an. Und er beteuert, 95 Prozent seiner Ausführungen entsprächen der Wahrheit, nur fünf Prozent dienten der Ausschmückung.

Inge Schweizer kennt Kenners Geschichten sehr gut. Die 67-Jährige geht als geschulte Wanderbegleiterin des Albvereins am Ende der Gruppe – auf dass keiner verloren geht. Nach dem Eintritt in den Ruhestand, sei ihr danach gewesen, „etwas Sinnvolles zu tun“, sagt sie. Sie habe sich deshalb vom Albverein zur Wanderbegleiterin ausbilden lassen, weil sie von dem Angebot überzeugt sei. Es herrsche eine gute Atmosphäre in der Gruppe, sie helfe den oft allein lebenden Menschen soziale Kontakte zu pflegen und sie ermögliche ihnen, trotz ihres Handicaps unter sicheren Bedingungen auf Wanderschaft zu gehen.

Beispielsweise Erika Schwaiger, die aufgrund ihrer Sehbehinderung Probleme hätte, sich auf einer nicht betreuten Wanderung zurechtzufinden. „Die Erika kann aber stundenlang bergauf und bergab gehen“, weiß Inge Schweizer um deren beachtliche Ausdauer. In dieser Gruppe des Albvereins muss Erika Schwaiger indes nie fürchten, über eine Stufe zu stolpern oder gegen eine Mauer zu laufen. Stets findet sich eine helfende Hand, die sie um Hindernisse führt. Und ganz nebenbei kommen die Mitglieder der Gruppe miteinander ins Gespräch, tauschen sich aus und schwelgen in Erinnerungen an alte Kirchheimer Zeiten – die Andreas Kenner an vielen Ecken der Stadt aufleben lässt.

Die Kirchheimer Stadtverwaltung greift dem Albverein bei der Organisation von „Lust am Wandern“ gerne unter die Arme. Sie übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit und die Anmeldung für Personen, die besondere Unterstützung beim Wandern benötigen. Letzteres „könnte besser angenommen werden“, sagt Gudrun Müller von der städtischen Fachstelle Bürgerengagement. Menschen mit Demenz nutzten das inklusive und integrative Angebot kaum, obwohl es in entsprechenden Hilfsinstitutionen bekannt und geachtet sei.

„Der Albverein ist eine gute Sache“

Doch gerade auch Menschen mit diesem Handicap lädt Gudrun Müller ausdrücklich ein mitzumachen: „Gebt nicht alles auf, was euch Spaß gemacht hat“, ermuntert sie an Demenz erkrankte Menschen und deren Angehörige dazu , einfach einmal vorbeizuschauen. Andreas Kenner ist von dem Nutzen des niederschwelligen Angebots ebenfalls überzeugt. Zum einen vermittle dieses Menschen mit Beeinträchtigungen den Spaß am Wandern, und zum anderen „entlastet es auch die Menschen, die sie betreuen – wenigstens für ein paar Stunden“.

Die Touren im Zuge von „Lust am Wandern“ werden von der Albvereinsortsgruppe Kirchheim zwischen März und Dezember immer am ersten Donnerstag im Monat angeboten. Die Gruppe startet jeweils um 10 Uhr am Bahnhof in Kirchheim und fährt dort zunächst mit dem Bus zum Startpunkt der Wanderung, die mit einer gemeinsamen Einkehr abgerundet wird. Pünktlich um 15 Uhr kehrt der Bus mit den Teilnehmern wieder zum Bahnhof zurück. Meist ist Erika Schwaiger mit von der Partie. Ihr Urteil steht längst schon fest: „Der Albverein ist eine gute Sache.“

Gewandert wird auf einfachen Strecken in gemäßigtem Tempo

Projekt
Das Projekt „Lust am Wandern“ für Menschen mit körperlichen, kognitiven und demenziellen Beeinträchtigungen existiert bereits seit dem Jahr 2013. Der Schwäbische Albverein betreibt es in Kooperation mit Demenz Support Stuttgart in verschiedenen Ortsgruppen. Mit der Initiative will der Schwäbische Albverein eine Möglichkeit „zur Teilhabe an ganz normalen Aktivitäten“ schaffen. Im Vordergrund steht laut dem Albverein das Wandern, nicht die Beeinträchtigung.

Ortsgruppen
In mehreren Städten im Land werden im Rahmen des Projekts regelmäßig Wanderungen für gehandicapte Menschen angeboten. Entsprechende Gruppen existieren in Kirchheim (Kontakt und Anmeldung unter Telefon 0 70 21/50 23 45), Stuttgart (07 11/9 97 87 12), Herrenberg (0 70 32/3 37 86), Reutlingen (Rufnummer 0 71 21/34 53 97 31), Mühlacker (0 70 41/81 46 90), Westlicher Enzkreis (Telefon 0 72 36/13 05 08), Villingen, Isny und Ulm.

Touren
Die Touren mit einer Länge von jeweils fünf bis acht Kilometern werden in einem gemäßigten Tempo gewandert. Die Strecken weisen keine Schwierigkeiten oder starke Höhenunterschiede auf. Bei der Auswahl achten die Wanderführer und -begleiter darauf, neben Naturschönheiten auch kulturelle Sehenswürdigkeiten in den Tourenverlauf mit einzubinden.