Alexandria Ocasio-Cortez ist die jüngste Abgeordnete in der Geschichte des amerikanischen Repräsentantenhauses und das Gesicht einer Rebellion gegen das Weiter-so. Das beschert der Aufsteigerin aber auch erbitterte Feinde. 

Washington - Neulich bei South by Southwest, dem Hightechfestival in Austin, einer Stadt, die wirkt wie eine Insel im eher konservativen Texas, vom Lebensgefühl her ein Zwilling New Yorks ist. Alexandria Ocasio-Cortez sitzt in einem weißen Ledersessel auf der Bühne und redet über die Mondlandung, über US-Präsident John F. Kennedy, der verkündete, dass der erste Mensch noch vor Ende der sechziger Jahre einen Fuß auf den Erdtrabanten setzen würde. „Wir sind auf den Mond geflogen, weil wir entschieden haben, dass wir es machen. Und nicht, weil wir gesagt haben: Oh nein, lasst uns warten, bis auch das letzte technische Detail geklärt ist“, sagt Ocasio-Cortez – und springt dann in die Gegenwart: Kennedys Kühnheit, eine ehrgeizige Vision, das sei es, was Amerika ein zweites Mal brauche – nur dass der Auftrag diesmal nicht laute, zum Mond zu fliegen, sondern ausnahmslos jeden krankenzuversichern. Dafür zu sorgen, dass jeder einen Lohn bekomme, von dem man leben könne. „Und unseren verdammten Planeten zu retten.“

 

„Moderat zu sein, ist für mich keine Haltung“

Das sei nicht radikal, sagt Ocasio-Cortez. Es scheine nur so, weil sich Amerika zu weit entfernt habe von seinem Kern, von dem, wofür es einmal gestanden habe. Und wenn sie höre, wie man sie zu mehr Augenmaß auffordere, könne sie nur erwidern: „Moderat zu sein, das ist für mich keine Haltung, das ist, als würde man mit den Achseln zucken. Als ob man sagen würde, tja, geht mich alles nichts an.“ 

Seit Bernie Sanders 2016 mit feurigen Wahlkampfreden durchs Land zog, hat die amerikanische Linke nicht mehr für solches Aufsehen gesorgt. Das liegt an Alexandria Ocasio-Cortez. AOC, das Kürzel, das sie sich bei Twitter zulegte, ist längst zu einer Marke geworden – oder zu einer Provokation, je nach Sichtweise. Mit 29 ist sie die jüngste Frau, die je ins Repräsentantenhaus in Washington gewählt wurde.

Älteren Kollegen, auch das passt ins Bild, hat sie inzwischen in einem Schnellkurs Tipps für den Umgang mit sozialen Medien gegeben – Tipps, die sie im Late-Night-Studio des Satirikers Stephen Colbert, gebündelt wiederholte. „Regel Nummer eins: Verstell dich nicht, versuch nicht jugendlich zu klingen, wenn du alt bist. Regel Nummer zwei: Wenn du dich bei Twitter zu Wort meldest, dann bitte nicht in der Sprache der Gründerväter.“

Glamour und Dramatik: Ocasio-Cortez weiß, was funktioniert

Einmal, in einem Ausschuss des Abgeordnetenhauses, stürzte sie eine Runde von Ethikexperten in einsilbige Verlegenheit. „Lassen Sie uns ein Spiel spielen“, begann Ocasio-Cortez. „Ich bin jetzt mal der Bösewicht, wofür mich jeder Zweite in diesem Saal wahrscheinlich ohnehin hält, und will so viele schlimme Dinge wie möglich tun, idealerweise, um mich zu bereichern.“ Wenn sie also einen Wahlkampf führe, der ausschließlich von der Industrie finanziert werde, gebe es irgendein Gesetz, das sie daran hindern könne? „Nein.“ Wollte sie Aktien von Öl- und Gasunternehmen kaufen und später Gesetze schreiben, die diese Unternehmen von Umweltauflagen befreien und damit den Aktienkurs nach oben treiben – wäre das legal? „Das könnten Sie tun.“ Glamour, Zuspitzung, dramatische Fragestunden: Sie weiß, wie man auffällt.

Ocasio-Cortez charakterisiert sich als demokratische Sozialistin, so wie auch Sanders sich Sozialist nennt. Leute mit mehr als zehn Millionen Dollar Jahreseinkommen will sie mit einem Spitzensteuersatz von 70 Prozent zur Kasse bitten. Wirft man ihr vor, damit die Volkswirtschaft zu ruinieren, erinnert sie an Dwight Eisenhower und Richard Nixon, an republikanische Präsidenten. Auch unter denen seien Steuern in dieser Höhe normal gewesen, bis Ronald Reagan sie drastisch senkte. Dass sich die USA unter Eisenhower oder Nixon vom Kapitalismus abgewandt hätten, könne nun aber niemand behaupten. Wenn aber Menschen 70 oder 80 Stunden pro Woche arbeiten müssten und ihre Familien dennoch nicht ernähren könnten, habe der Kapitalismus ein kritisches Spätstadium erreicht.

Die Gegner sehen in „AOC“ eine schöne, naive Frau

Im Februar präsentierte Ocasio-Cortez zusammen mit Parteifreunden einen Green New Deal, ein Programm, das darauf abzielt, die amerikanische Energiewirtschaft binnen zehn Jahren von fossilen Rohstoffen auf erneuerbare Quellen umzustellen, zu hundert Prozent. Unter anderem enthält es die Forderung, das zu Fragmenten verkümmerte Eisenbahnnetz massiv auszubauen, durchaus zulasten des Flugverkehrs. In den Wortmeldungen ihrer Gegner wurde daraus: AOC will das Fliegen verbieten. Ginge es nach den Demokraten, würde demnächst die Regierung entscheiden, wohin die Leute fliegen dürften und wohin nicht, höhnte Liz Cheney, Tochter des ehemaligen republikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney. „Bald sind wir Amerikaner gezwungen, in Zügen durch die Gegend zu fahren, die von den Tränen von Einhörnern angetrieben werden“, fabulierte Tom Cotton, ein Senator aus Arkansas. Bei Fox News, dem Haussender der Konservativen, stellt man sie gerne als schöne junge Frau hin, die gleichzeitig etwas naiv ist. Tucker Carlson, einer der Moderatoren des Kanals, nennt sie eine Jungpionierin. Andere sprechen von der Mangelwirtschaft Venezuelas, die irgendwann auch auf die USA überschwappe, sollte man den sozialistischen Rezepten der AOC folgen.

Dass die linke Rebellin zumindest in ihrer Generation einen Nerv trifft, machen Umfragen aus dem vergangenen Herbst deutlich. Nach einer Erhebung der Universität Harvard geben zwar 43 Prozent der 18- bis 29-jährigen Amerikaner kapitalistischen Verhältnissen den Vorzug vor sozialistischen, bei 31 Prozent aber ist es umgekehrt. Den demokratischen Sozialismus unterstützen sogar 39 Prozent.

Als Ocasio-Cortez in New York zur Welt kam, Tochter einer Mutter aus Puerto Rico und eines Vaters aus der Bronx, hatte die Berliner Mauer noch knapp vier Wochen vor sich. Die „rote Gefahr“, die Übungen in der Schule, bei denen die Kinder zum Schutz vor Atombombenangriffen unter ihre Pulte kriechen mussten – all das kennt ihre Generation nur noch aus Erzählungen. Was ihr Leben prägte, hatte mit dem Kalten Krieg nichts zu tun. Alexandria Ocasio-Cortez war elf, als Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center krachten. Sie war 17, als die Finanzkrise Millionen von Mittelschichtenfamilien um Arbeit, Haus und Ersparnisse brachte. Ihr Vater, ein Architekt, starb im Jahr des Crashs an Lungenkrebs. Ihre Mutter verkaufte das Eigenheim und zog nach Florida, wo es sich preiswerter leben lässt als im Big Apple.

Von der Tequila Bar zu den Demokraten

Alexandria Ocasio-Cortez, die in Boston Wirtschaftswissenschaften und internationale Beziehungen studierte, kehrte zurück nach New York. In einer Taco-und-Tequila-Bar namens Flats Fix mixte sie Getränke, mit dem Einkommen unterstützte sie auch ihre Mutter. Schließlich wurde sie von Beratern der von Bernie Sanders gegründeten Organisation Brand New Congress gefragt, ob sie nicht fürs Repräsentantenhaus kandidieren wolle. Im Juni 2018 gewann sie im 14. Wahlbezirk New Yorks die Vorwahl der Demokraten gegen Joseph Crowley, der als potenzieller Anwärter für den Vorsitz der Parlamentsfraktion galt – eine Sensation. Der 14. Distrikt umfasst die südliche Bronx und das nördliche Queens. Über die Hälfte seiner Bewohner stammt aus Lateinamerika, etwa ein Fünftel aller Kinder lebt unterhalb der Armutsgrenze. Praktisch über Nacht war Alexandria Ocasio-Cortez zum Gesicht eines Aufstands der Benachteiligten geworden – des Aufstands gegen ein Weiter-so.

Gegen den Kapitalismus habe sie nichts, sagte sie kürzlich auf der Bühne in Austin. Wenn es bedeute, den Gewinn über alles andere zu stellen, dann sei sie dagegen. „Bei mir rangiert die Gesellschaft vor dem Kapital. Es fühlt sich einfach nicht gut an, durch die Straßen New Yorks zu laufen und all die Obdachlosen zu sehen, während ringsum die Wolkenkratzer aus dem Boden schießen.“ Was das angeht, will sie die Prioritäten anders setzen.

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