Grünalgen sind in der Bretagne zur Plage geworden. Am Pranger stehen die Bauern, Mais- wie Milchbauern, Schweine- wie Rinderzüchter.
Saint-Brieuc - Das Meer schimmert türkisblau, der Sandstrand grün, weiß und beige. Unendlich wird er sein. Bis zum Horizont reicht er auf alle Fälle. Möwen kreischen. Der Wind tost. Auf einem Felsen trotzt eine Kapelle den Gezeiten. Doch das Idyll ist trügerisch. Da sind auch noch Gitter und Zementblöcke. Sie verstellen die Zufahrt zum Strand. Ein ganzes Schilderregiment warnt vor Gefahren. Der Gang ans Wasser, das Betreten der Wanderwege, das unbeaufsichtigte Spielen von Kindern, das Freilassen von Tieren - alles verboten. In der Bretagne wütet die Grünalgenpest.
Was auf Sand und Fels so hübsch grün glitzerte, wirkt aus der Nähe weniger schön. Berge zu lange in Wasser eingelegten Kopfsalats scheinen über die Bucht von Saint-Brieuc ausgekippt worden zu sein. 108 der 158 bretonischen Strände sehen ähnlich aus. Eine Armada von Traktoren, Baggern und Sattelschleppern schafft fort, was das Meer ausgespuckt hat. Ein Wettlauf mit der Zeit. Wenn die Meerespflanzen vermodern, setzen sie lebensgefährlichen Schwefelwasserstoff frei. In diesem Jahr haben die Reinigungskommandos so viel zusammengetragen wie noch nie zuvor - mehrere Zehntausend Kubikmeter.
Die Warnung erweist sich als überflüssig
Im Meer sei das Zeug harmlos, frisch an Land geschwemmt ebenfalls, hatte die Mitarbeiterin des Touristenbüros von Saint-Brieuc am Morgen klargestellt. Wenn die Algen aber an der Luft vermoderten, fasrig würden und weißliche Krusten bildeten, sei größte Vorsicht geboten. Unter der spröden Oberfläche staue sich das giftige Gas. "Machen sie einen großen Bogen darum", hatte die Französin geraten.
Die Warnung erweist sich als überflüssig. Nicht nur die Gitter bremsen den Schritt. Wer die Absperrung umgeht, landet in einem Brennnesselfeld. Wer trotz Nesseln voranschreitet, sich grünen Schlieren und weißen Krusten nähert, bekommt bald keine Luft mehr. Schwefel und Ammoniak nehmen den Atem, beißen in den Augen und der Nase. Wie von allein schlagen die Beine den von der Touristenberaterin empfohlenen Bogen.
Einige Todesfälle sind umstritten
Was nicht heißt, dass es an den mit Grünalgen verseuchten Stränden nicht schon Tote gegeben hätte. Thierry Dereux vom Umweltschutzverband France Nature Environnement zählt die Opfer auf, in chronologischer Reihenfolge, von Juli 2009 bis jetzt, Tendenz steigend. "Ein verendetes Pferd, der Reiter bewusstlos, ein Algen abtragender Arbeiter ums Leben gekommen, mehrere tote Hunde und in diesem Sommer 38 tote Wildschweine", zieht der 60-jährige Familienvater Bilanz.
Einige Fälle sind umstritten. Ob dem Grünalgen einsammelnden Arbeiter allein Schwefelwasserstoffdämpfe zum Verhängnis wurden, steht nicht zweifelsfrei fest. Auch wies eines der sechs Wildschweine, die kürzlich in der Bucht von Saint-Brieuc alle Viere von sich streckten, in der Lunge keine tödliche Dosis Dämpfe auf.
Die Schuldigen sind die Landwirte
Die Schuldigen aber stehen fest. Die Landwirte sind es: Mais- wie Milchbauern, Schweine- wie Rinderzüchter. In Form von Kunstdünger, Gülle oder Mist schütten sie Stickstoff auf Wiesen und Äcker. Im Wasser zu Nitrat umgewandelt, ist er den Grünalgen Aufbaunahrung. Wissenschaftler haben errechnet, dass die Flüsse der Region jährlich 75.000 Tonnen Nitrat ins Meer tragen.
Der Landwirt Jean-Paul aus Planguenoual, stapft mit Frau und Töchtern den gesperrten Strand hinauf. Vor Kurzem hatte der Bretone dort mit Kollegen Fußball gespielt, "um allen zu zeigen, dass das ungefährlich ist", wie er sagt. Der Bauernverband FNSEA hatte Publikum zusammengetrommelt. 400 Landwirte waren aufmarschiert. Jetzt hat Jean-Paul zum gleichen provokativen Zweck die Familie ins Sperrgebiet geführt. "Sehen Sie, es ist wieder nichts passiert", sagt er. Der 40-Jährige ist hart im Nehmen. Wenn er die Finger spreizt, scheinen die Schaufelzähne eines Baggers aufzublitzen. Strandsandalen an den bloßen Füßen, hat er sich den Weg durchs Brennnesselfeld gebahnt, als wolle er sagen: gemessen an dem, was ich schon alles habe einstecken müssen, kommt es auf ein paar Pusteln nicht an.
Die Behörden lassen die Bauern gewähren
Der Bretone fühlt sich verraten. Die Arme trotzig vor der Brust verschränkt, erzählt Jean-Paul von Kooperativen, Agrarindustrie, Nahrungsmittelkonzernen und Politikern. Alle hätten sie die Landwirte gedrängt, international konkurrenzfähig zu werden, auf Monokulturen und Massenproduktion umzustellen. Jetzt, da der Rat befolgt sei, die Bauern mit Kunstdünger maximalen Ertrag aus dem Boden herauskitzelten, sollten sie wieder produzieren wie in der guten alten Zeit: weniger auf alle Fälle und in ein paar Jahren, wenn sich der Boden erholt habe, vielleicht auch qualitativ Besseres. Tausend Euro netto verdiene er im Monat, sagt Jean-Paul und fragt: "Soll ich mich mit 600 begnügen?" Die Behörden schauen weg, lassen die Bauern im Sperrgebiet gewähren. "Wenn sie die Polizei schicken, bricht hier ein Bauernaufstand los", glaubt Dereux.
Die Politik hält sich ebenfalls zurück. Sie hat zwar Obergrenzen für den Düngemittelverbrauch festgesetzt, das Ablassen von Jauche und Mist in freier Natur verboten und sich damit den Zorn der Bauern zugezogen. Aber das Übel an der Wurzel packen, will niemand. Das liefe, wie es der ehemalige Präfekt Jean-Louis Fargeas in einem Gutachten für Frankreichs Premier FranÛois Fillon formuliert hat, auf "eine tiefgreifende, ja revolutionäre Umstellung landwirtschaftlicher Praktiken" hinaus, die für die Branche nicht akzeptabel sei. Und so ist der Nitratgehalt des Wassers in den vergangenen zehn Jahren zwar von 40 auf 31 Milligramm pro Liter gesunken, aber immer noch mehr als dreimal so hoch, wie er sein sollte. Weniger als 10 Milligramm pro Liter müssten es sein, damit die Grünalgen wieder werden, was sie einmal waren: eine Meerespflanze unter vielen.
Sarkozy schlägt sich auf die Seite der Bauern
Wenn die Politik nicht härter durchgreift, dann deshalb, weil die Landwirtschaft in der Bretagne 30 Prozent der Arbeitsplätze stellt. Ihr Lasten aufzubürden, käme die Region teuer zu stehen. Staatschef Nicolas Sarkozy hat dem Präfekten von Saint-Brieuc jüngst glasklar den Weg gewiesen. Bei einem Besuch in der Bretagne hat sich der Präsident auf die Seite der Bauern geschlagen und die Umweltschützer als "Integristen" verhöhnt.
Dereux und seine Mitstreiter hoffen auf Beistand aus der Tourismusbranche. "Nach dem Tod der Wildschweine hat bei uns drei Tage das Telefon nicht mehr geklingelt", erzählt die Rezeptionistin eines Hotels von Saint-Brieuc. Der Imageschaden sei enorm, der Umsatz eingebrochen. Die Landwirtschaft komme ihr vor wie eine gigantische, außer Kontrolle geratene Maschine. Der Tourismus, der nur acht Prozent zur Beschäftigung beiträgt, ist für das wirtschaftliche Wohlergehen der Region freilich zweitrangig. In dem Wissen, dass sie der Grünalgenplage wenig entgegensetzen können, versuchen Hoteliers und Gaststättenbesitzer, sie herunterzuspielen.
"Algen?" Am nördlich von Saint-Brieuc gelegenen Strand Les Rosaires blicken Traktorfahrer, Rettungsschwimmer, Andenkenverkäufer und Kellner erstaunt auf, als hörten sie das Wort zum ersten Mal.