Die algerische Führungsclique hat sich und das Volk in eine Sackgasse manövriert, meint Martin Gehlen.

Algier - Die arabische Welt erlebt ein Déjà-vu. Wieder sind Hunderttausende auf den Straßen und fordern friedlich den Sturz ihres Endlosregimes, gehen mit Blumen auf Polizisten zu und räumen nach den Kundgebungen mit Müllsäcken die Straßen auf – Bilder wie aus dem Arabischen Frühling 2011 in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und Jemen. Diesmal wollen die Algerier fast sechs Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von Frankreich ihre korrupte Führungsclique loswerden. Der Optimismus jedoch, der die Volksaufstände vor acht Jahren begleitete, ist verdampft. Die Aussichten auf dauerhaften Systemwechsel gehen gegen null. Einzig Tunesien hält sich noch einigermaßen auf den Beinen, weil die EU die Nation mit Hilfsprojekten und Euromillionen versorgt. Libyen und Jemen dagegen existieren als Staaten nicht mehr. Ägyptens Militärpräsident Abdel Fattah al-Sisi lässt sich seine Amtszeit momentan per Verfassungsänderung bis zum 80. Lebensjahr verlängern. Syriens Despot Baschar al-Assad hat sich in acht Jahren Bürgerkrieg den Weg freigeschossen, die 1971 erputschte Macht seines Clans bis auf sechzig Jahre auszudehnen.

 

Die arabische Staatenwelt wird immer maroder

Kein Wunder, dass die arabische Staatenwelt immer maroder wird. Nirgendwo hat sich eine stabile Demokratie herausgebildet. Eine moderne Vorstellung vom mündigen Staatsbürger existiert nicht. Und das nahezu totale Scheitern des Arabischen Frühlings unterstreicht den Verdacht, dass der Region fundamentale Voraussetzungen fehlen für offene und partizipatorische Gesellschaften: eine tatkräftige Bürgergesellschaft, aktive Parteien, starke Gewerkschaften, unabhängige Medien, ein effizientes Bildungssystem sowie ein Sozialbewusstsein, das nicht ein Drittel oder gar die Hälfte der Bevölkerung einfach ihrem Elend überlässt. Die Folgen dieser arabischen Herrschermentalität werden – so ist zu befürchten – jetzt auch die Algerier erfahren, von denen knapp die Hälfte unter 25 Jahre alt ist. Sie alle wissen, dass sie das Ende des heimischen Ölreichtums noch am eigenen Leibe erleben werden, ohne dass ihre Nation sich eine zukunftsfähige Wirtschaftsbasis geschaffen hat. Denn die meisten Einnahmen aus den Bodenschätzen sind spurlos versickert – durch Korruption, Selbstbereicherung und öffentliche Verschwendung. Das Heer überflüssiger Staatsdiener geht in die Millionen. Polizei und Geheimdienst sind allgegenwärtig.

Trotzdem wurde das Machtkartell vom Ausmaß der nationalen Frustration offenkundig völlig überrascht. Mit ihrem Coup, Abdelaziz Bouteflika zum fünften Male an der Staatsspitze zu installieren, haben sich Generäle, Oligarchen und Regimeelite in eine Sackgasse manövriert. Bouteflikas Kandidatur zurückziehen können sie nicht, weil keiner aus den eigenen Reihen im Rennen ist und dann ein zufälliger Zählkandidat in den Präsidentenpalast einziehen würde. So bleibt nur die Wahl zwischen Farce und Gewalt: ein Wahltag ohne Wähler, die stattdessen in den Straßen protestieren. Oder härteste Repression wie in Syrien und Ägypten, um die politische Friedhofsruhe wiederherzustellen.