Als sie 2013 den Literaturnobelpreis gewann, hielten das viele Fans und Experten für lange überfällig. Alice Munro erzählt auf 30 Seiten, wofür andere einen Roman brauchen.

Ottawa - Das Leben von Alice Munro drehte sich schon immer um Bücher. Einst betrieb sie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann sogar einen Buchladen in Victoria auf Vancouver Island. „1963 haben Jim Munro und seine erste Ehefrau Alice - ja, genau diese Alice Munro - den Laden eröffnet“, heißt es auf der Website von „Munro Books“, der nach dem Tod von Jim Munro 2016 von früheren Angestellten weiterbetrieben wird und bis heute zahlreiche Buch- und Munro-Fans aus aller Welt anzieht.

 

Auch viele der Kurzgeschichtensammlungen von Alice Munro, die am 10. Juli 2021 90 Jahre alt wird, werden in dem Geschäft in einer ehemaligen Bankfiliale in der Innenstadt von Victoria verkauft. Die Autorin selbst, die drei Töchter hat und deren zweiter Ehemann vor einigen Jahren starb, lebt schon seit langem ein anderes Leben, zurückgezogen auf der Ostseite Kanadas und seit 2013 gekrönt mit dem Literaturnobelpreis.

Seit 2013 im Ruhestand

Für viele war ihre Ehrung eine riesige Überraschung, für Fans - darunter auch Prominente wie Schriftstellerkollege Jonathan Franzen - eine überfällige Bestätigung und für Munro selbst hauptsächlich eine große Freude. „Ich bin so dankbar für diese wunderbare Ehre, nichts auf der Welt könnte mich so glücklich machen“, sagte sie in einem damals während der Preisverleihung gezeigten Video.

Wenige Monate zuvor hatte die Autorin ihren Ruhestand verkündet. „Ich werde wahrscheinlich nicht mehr schreiben“, hatte sie der kanadischen Zeitung „National Post“ gesagt. „Es ist nicht so, dass ich das Schreiben nicht geliebt habe, aber man kommt in eine Phase, wo man über sein Leben irgendwie anders denkt.“

Es begann auf dem Schulweg

Der Kurzgeschichtenband „Dear Life“, in Deutschland 2013 unter dem Titel „Liebes Leben“ erschienen, werde ihr letzter sein. Bislang hat Munro sich an diese Ankündigung gehalten und meldet sich inzwischen öffentlich so gut wie gar nicht mehr zu Wort.

Geboren wurde Munro 1931 als älteste von drei Geschwistern auf einer Silberfuchsfarm in dem kleinen Ort Wingham in der kanadischen Provinz Ontario. Schon als kleines Mädchen habe sie Geschichten erfunden, erzählte die Autorin einmal in einem Interview. „Ich hatte einen langen Schulweg und währenddessen habe ich mir Geschichten ausgedacht.“

Beim Kochen nebenher schreiben

Das Aufschreiben und Veröffentlichen aber kam viel später. Ihren ersten Erzählungsband (deutscher Titel: „Tanz der seligen Geister“) veröffentlichte Munro 1968 mit fast 40 Jahren. Die Zeit zum Schreiben rang die damalige Hausfrau und Mutter dem Alltag ab, setzte sich während des Kochens – und während die Kinder schliefen oder in der Schule waren – immer wieder an ihren kleinen Sekretär. „Ich hatte schlicht zu wenig Zeit für das Schreiben, keine Zeit für große Würfe. Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen.“

Ziel sei eigentlich immer ein Roman gewesen. „Über Jahre und Jahre dachte ich, dass die Geschichten nur Übung wären, bis ich endlich Zeit hätte, einen Roman zu schreiben“, verriet Munro dem „New Yorker“. „Dann habe ich herausgefunden, dass sie alles waren, was ich konnte, also habe ich mich damit abgefunden.“ Selbst ihr einziges als Roman vermarktetes Werk „Kleine Aussichten“ (1971) sieht Munro „eigentlich als Sammlung zusammenhängender Geschichten“.

Lob auch von Margaret Atwood

Die Gattung der Kurzgeschichte meisterte Munro dafür aber so gut wie kaum jemand anderes, revolutionierte es, belebte es neu, perfektionierte es - und bekam dann auch als erste reine Kurzgeschichtenautorin den Literaturnobelpreis.

Für Autoren-Kollege Franzen ist sie schlicht „die Beste“, für ihre kanadische Kollegin und Freundin Margaret Atwood „eine Heilige der internationalen Literatur“. Ein kanadisches Literaturfestival trägt inzwischen ihren Namen. Ihre Geschichten, selten länger als 30 Seiten, sind alle nahe an Munros eigenem Leben, gespeist aus den Erfahrungen mit dem strengen, aber bücherverliebten Vater und der schwierigen Beziehung zur Parkinson-kranken Mutter.

„Was für eine Qual“

Es geht um Frauen, um Mütter und Töchter im ostkanadischen Ontario, die erwachsen werden, sich verlieben und die schönen und tragischen Seiten des Lebens kennenlernen. Munro ist Perfektionistin. „Ich will, dass meine Geschichten die Menschen bewegen.“

Dafür hatte ihr kanadischer Verleger ihr schon Jahre vor dem Gewinn den Literaturnobelpreis vorhergesagt. „Und ich wusste, wenn ich gewinne, wäre ich für eine halbe Stunde wahnsinnig glücklich, und danach würde ich denken: Was für eine Qual“, sagte die überzeugte Calvinistin einmal in einem Interview. Denn Glück sei kein Preis. „Glück ist harte Arbeit“.